Gastgeber

Menschen wollen willkommen sein
Dem Pflegeteam ins Gästebuch geschrieben
Von Susanne Heim

„Ambiente ist wichtiger als ärztliche Leistung“ – so titelte im März 1999 eine Kölner Tageszeitung und brachte die Ergebnisse einer Studie über die Zufriedenheit von Klinikpatienten auf den Punkt: Es komme vor allem auf „so scheinbare Nebensächlichkeiten“ an wie ein freundlich eingerichtetes Zimmer – oder ein Lächeln der Krankenschwester. Förderlich für Sicherheitsgefühl und Zufriedenheit sei im übrigen und nicht zuletzt auch die Auskunftsbereitschaft von Ärzten und Pflegekräften.

Durchgeführt worden war die umfangreiche Befragung in einer Chirurgischen Abteilung. Doch wäre die Quintessenz auch in der Psychiatrie kaum anders ausgefallen. Hier wie dort logiert man schließlich nur ungern, notgedrungen. Hier wie dort möchte man sich – wennschon, dennschon – freundlich aufgenommen und gut aufgehoben fühlen.

Das Ambiente aber, die Atmosphäre einer Station wird in erster Linie vom Pflegeteam geprägt. Sind alle Ihre Mitarbeiter sich dessen bewusst? Sind Sie selbstbewusst genug, um sich als anteilnehmende, verantwortlich mitsorgende Gastgeber auf Station zu zeigen?

Genesung fördernde Gastfreundschaft

Als Patientin wünsche ich mir, dass ich mich willkommen und angenommen fühlen darf mit all meinem Unbehagen, Misstrauen, Widerwillen, Schmerz. Ich brauche vorübergehend Schutz, Schonung und Unterstützung, weil ich einige Probleme meines Lebensalltags nicht mehr (alleine) meistern kann. Ich hoffe, dass meine Gastgeber mir mit Respekt begegnen. Ich hoffe, dass Sie mir behilflich sind, mich in der fremden Umgebung und mit den Spielregeln der Station zurechtzufinden, mich in die Wohngemeinschaft einzufinden, die ich mir nicht aussuchen konnte. Ich wünsche mir, dass Sie mich wohlwollend begleiten, mich ermuntern, therapeutische Angebote wahrzunehmen; dass Sie mich auch einladen, mich an der gemeinsamen Gestaltung des Stationsalltages zu beteiligen und dies als Trainingsmöglichkeit zu verstehen und zu nutzen, um wieder fit zu werden für das Leben zuhause. Manchmal wird das nicht ohne Ansporn und (Er-)Mahnungen abgehen. Ich will aber nicht erzogen werden, denn ich bin so erwachsen und mündig wie Sie, wenn auch vorübergehend auf Beistand angewiesen. Wenn Sie akzeptable Anlässe schaffen und sich auch selber gutgelaunt beteiligen, kann das gemeinsame Tun sogar Spaß machen.

Begegnung auf gleicher Augenhöhe

Als Angehörige wünsche ich mir, dass mein Besuch auf Station willkommen ist. Die Erkrankung des Patienten hat auch mich zutiefst verunsichert. Auch ich brauche Orientierung und Ermutigung. Auch ich brauche erst einmal eine Verschnaufpause. Die kann ich mir aber nur erlauben, wenn ich darauf bauen und vertrauen darf, dass der Patient bei Ihnen in guten Händen ist. Das wird mir nur möglich sein, wenn ich

  • mit meinen Sorgen und Fragen ernstgenommen und angehört werde, wenn ich Antwort bekomme, so dass ich
  • mir ein Bild machen kann, wie es weitergehen soll, weitergehen kann; wie mit meinem Angehörigen in der Klinik verfahren wird und welche Rolle ich im Behandlungsprozess spielen soll, spielen kann.

Ich wünsche mir, dass Sie als Gastgeber der Station mir auf gleicher Augenhöhe gegenübertreten und mich als Teil des Teams verstehen, das sich um das Wohl des Patienten bekümmert. Ich will nicht als lästige Konkurrentin um seine Gunst abgewimmelt, sondern als Verbündete einbezogen werden.

Vor allem, wenn ich den Patienten nach seinem stationären Aufenthalt im Alltag zu Hause begleiten (können) soll, muss ich auch an Behandlungsplanung und Entlassungsvorbereitung teilhaben. Beides beginnt, genau genommen, bereits bei der Aufnahme in die Klinik. Ich muss wissen, wohin die Reise gehen soll und welche Stolpersteine möglicherweise auf dem Weg zu beachten sind. Auch ich kann nur dann hilfreich sein und (mit-)wirken, wenn ich über Ziele, Sinn und Zweck, erhoffte Wirkungen und mögliche, vielleicht unvermeidliche Nebenwirkungen von therapeutischen Maßnahmen und Verfahren in etwa Bescheid weiß. Nur dann kann meine Gratwanderung zwischen notwendiger Hilfe und behindernder Fürsorge, zwischen Anspruch auf Versorgung und Recht auf Selbstbestimmung einigermaßen gelingen.

Bei diesem Balance-Akt stehe ich tagtäglich vor Fragen, die auch Ihnen als Begleiter auf Station nicht fremd sein dürften: Was kann ich dem Patienten zutrauen, was darf ich ihm zumuten? Wieviel Verantwortung kann, darf, muss ihm überlassen bleiben? Und wo, ab wann mache ich mich der unterlassenen Hilfeleistung schuldig? Anders als Sie, die bezahlten professionellen Helfer mit Anspruch auf Dienstschluss und jährlichen Urlaub, bin ich völlig unvorbereitet und nicht aus freien Stücken zur psychiatrischen Hilfskraft geworden. Ich fühle mich rund um die Uhr in der Pflicht – immer gefordert und immer im Zweifel, ob überhaupt und inwieweit ich mich auch einmal verweigern, für mein eigenes Wohlergehen sorgen darf. Wieviel Eigenleben steht mir (noch) zu? Wieviel Raum kann ich mir nehmen? Darf es mir überhaupt gutgehen, solange es meinem kranken Angehörigen so schlecht geht? Darf ich fröhlich sein, während er/sie in so tiefer, lähmender Depression gefangen ist?

Hilfreiches Miteinander

Da brauche ich Orientierungshilfen, Rückenstärkung – nicht nur von anderen Angehörigen, sondern auch von Ihnen, den „gelernten Helfern“, die Sie den Patienten in Obhut genommen haben. Sie sind vorübergehend an meine Stelle getreten. Von einem (regelmäßigen) Erfahrungsaustausch sollten auch Sie profitieren. Denn ich bringe neben meinen Fragen auch einen reichen Schatz an Erfahrung mit: Ich habe Verständnishilfen anzubieten für den Umgang mit dem Patienten. Schließlich bin ich Teil seiner Geschichte und kenne ihn nicht erst seit gestern. Ich habe mit ihm gelebt, habe ihn erlebt und vieles gemeinsam mit ihm – lange bevor die Krankheit ihn aus der Bahn geworfen und alle Gewissheiten zerstört hat.

Ich weiß, Ihre Zeit ist begrenzt. Zwar brauche ich gelegentlich auch ein Gespräch unter vier Augen, weil ich nur dann den Mut habe, meine Sorgen offen zu äußern. Und nichts kann Familiengespräche ersetzen, in denen Spielregeln und stabilisierende Verhaltensweisen für das (Zusammen-)Leben nach der Klinik erarbeitet werden. Viele meiner alltäglichen Probleme und Konflikte ließen sich aber, womöglich noch besser, noch wirkungsvoller, gemeinsam mit Ihnen und anderen Angehörigen abhandeln. Laden Sie uns doch einfach alle vierzehn Tage zu einem gemeinsamen Erfahrungsaustausch ein – zu einer Art kollegialer Supervision! Wenn Sie sich für uns interessieren, wenn wir spüren, dass Sie uns und unsere Sichtweisen wertschätzen, werden wir gerne kommen. Jedenfalls die meisten von uns. Manche werden vor Dankbarkeit zerfließen, manche misstrauisch zögern, weil sie allzu oft Zurückweisung oder herablassende Behandlung, offene oder unterschwellige Beschuldigung erlebt haben.

Ich möchte – als Angehörige wie als Patientin - ernstgenommen und respektiert werden: mit meinem Kummer, meinen Sorgen und mit meinen Kompetenzen. Es macht mich mutlos und zornig, wenn Sie mich mit der „Schweigepflicht“ abfertigen. Sie können mir doch im Zweifelsfall verständlich machen, warum Sie welches Thema heute (noch) nicht besprechen wollen! Und Sie können, im Zweifelsfalle, den Patienten sagen, warum Sie ihnen nicht wirklich hilfreich zur Seite stehen können, wenn Sie ihre nächsten Bezugspersonen ausgrenzen. Eine Psychiatrie, die das soziale Umfeld vernachlässigt oder gar vergisst, darf sich jedenfalls nicht Sozialpsychiatrie nennen!

Greifbar sein

Ist Ihnen eigentlich bewusst, dass Sie als Gastgeber in der Klinik zum sozialen Umfeld der Patienten gehören – weit mehr als der Doktor, der Ihrer Station (expressis verbis!) ja auch nur einen Besuch abstattet, um Visite zu machen!? Ungeachtet dessen begegnen uns in erster Linie die Psychiater und allenfalls noch Therapeuten als „zuständige“ Repräsentanten. Alle anderen Berufsgruppen und ihre Aufgaben verschwimmen im Nebel der Konturlosigkeit. Wer aber sein Licht unter den Scheffel stellt, darf sich nicht wundern, wenn er unterschätzt, übersehen, übergangen wird.

Dass es im Krankenhaus z.B. einen Sozialdienst gibt und wofür der gut ist – das habe ich nur zufällig erfahren. Viele Angehörige wissen das nicht. Und was bleibt wohl dem Pflegedienst zu tun – außer Pillen verteilen? Die Patienten sind ja in der Regel nicht bettlägerig. Kein Wunder also, dass man Sie meistens beim Kaffeetrinken antrifft? Schön wär’s nur, wenn Sie dabei im Kreis Ihrer Stationsgäste und Besucher säßen und nicht im Dienstzimmer, abgeschottet hinter geschlossener Tür. Es entgeht Ihnen dabei so vieles! Auch, wenn Sie durch völlige Abwesenheit glänzen. Vielleicht lässt sich das gelegentlich nicht vermeiden. Aber dieses Beispiel bleibt hoffentlich die Ausnahme: Neulich wollte eine Angehörige Dank und Anerkennung für eine hilfreiche Krisenintervention loswerden. Sie konnte einen ganzen Nachmittag lang niemanden vom Pflegeteam finden – weder auf der Station, noch im Klinikgelände...

Ich wünsche mir, dass Sie als die Gastgeber auf Station viel deutlicher in Erscheinung treten. Dass Sie sich als (mit-)verantwortliche Begleiter der Patienten zu erkennen geben. Dass Sie mir und allen Angehörigen als mitsorgende Partner gegenübertreten, greifbar, ansprechbar, interessiert.

Ich werde Sie im übrigen nur dann als vertrauenswürdige Profis schätzen lernen, wenn Sie für Ihr Tun und Lassen selber einstehen, sich weder hinter dem Doktor noch hinter dem Patienten verschanzen, und wenn Sie Diskretion wahren - auch über das, was ich Ihnen anvertraue! Ich möchte nicht jedes Wort, das ich als Angehörige mit Ihnen wechsle, auf die Goldwaage legen (müssen), weil Sie den Patienten, aus Prinzip, alles brühwarm weitererzählen. Im Kindergarten nannte man sowas Petzen.

Normalität als Therapeutikum

A propos Kindergarten. Manchmal wundert es mich schon, in welchem Ton Sie mit Patienten sprechen. Sie halten das vielleicht für therapeutisch. Nichts gegen Regression und ihre Bearbeitung. Die soll ihren Platz haben: in der Psychotherapie. Sie aber sind, als Begleiter im Stationsalltag, für die Vorbereitung erwachsener Menschen auf den Alltag „draußen“ zuständig. Wenn Sie deren gesunde Anteile stärken und stabilisieren wollen, dann sollten Sie diese auch (be)achten und ansprechen.

Unglücklicherweise lernen Sie die Patienten vornehmlich in akuten Krankheitsphasen kennen, wenn sie besonders schwach und schutzbedürftig erscheinen. Deshalb möchte ich allen psychiatrisch Tätigen eine Erfahrung wünschen, die mein Helfersyndrom kuriert hat: Als (nicht psychotische) Patientin in der Psychiatrie dem Stationsleben auf einer „Geschlossenen“ ausgesetzt, habe ich begriffen,

  • wie stark die Schwachen
  • wie hellsichtig die Verwirrten,
  • wie sensibel realitätsbezogen die Weggetretenen – kurzum:
  • wie gesund die Kranken sind!

Das hat mir Respekt, ja Bewunderung abgenötigt - und Mut gemacht im Umgang mit meinem psychosekranken Sohn. Selbsterfahrung ist bekanntlich der wirkungsvollste Lehrmeister. Sie würden staunen, wie gut die Patienten ihre Pappenheimer kennen: ja, auch Sie, das Stationsteam, die Therapeuten, den Doktor – weit besser nämlich als wir alle miteinander die Patienten kennen! Sie würden staunen, wie oft Sie arglos wohlmeinend deren Spiel (mit)spielen – zumal, solange Sie sich blindlings identifizieren und solidarisieren: mit den vermeintlich ohnmächtigen Opfern schizophrenogener Mütter, pathogener Familienstrukturen und der schikanösen Gesellschaft.

Auch ein Psychose-Seminar oder Psychose-Forum eignet sich für solche Einsichten und Korrekturen am „professionellen Weltbild“. Hier begegnen sich Angehörige, Patienten und psychiatrisch Tätige freiwillig, gleichberechtigt, aus und mit Interesse füreinander. Die regelmäßige Teilnahme an einer solchen trialogischen Übung, wenigstens ein Semester lang, müsste für alle Berufsgruppen in der Psychiatrie Pflicht sein. Partnerschaft zu postulieren genügt nicht. Sie will geübt sein.

Kinder gehören dazu

Vergessen Sie über alledem die Kinder nicht! Auch sie sind Angehörige. Ist Ihnen bewußt, wie viele Ihrer Patienten Eltern sind? Können Sie auf Ihrer Station eine Mutter zusammen mit ihrem Säugling aufnehmen? Sie wissen doch, dass frühkindliche Trennungserlebnisse zu den besonders schwer wiegenden Risikofaktoren für eine spätere psychische Erkrankung zählen. Sind Sie wenigstens auf Familienbesuche mit Kindern eingerichtet? Gibt es eine Spielecke für die kleinen Gäste? Fragen Sie die Eltern auf Ihrer Station nach den Kindern? Geben Sie sich mit der Auskunft zufrieden, die seien versorgt – bei und von wem auch immer? Machen Sie die Kinder zum Thema. Sprechen Sie mit den Müttern und Vätern über deren (vielleicht heimliche) elterliche Sorgen und über allgemeine Erziehungsprobleme! Auch die gehören zum Lebensalltag – spätestens nach der Entlassung!

Ich meine, mehr „Normalität“ im Umgang miteinander, innerhalb wie außerhalb der Klinikmauern, wäre therapeutischer als manche „Therapie“. Und kostet keinen Pfennig! Halten Sie doch einfach gelegentlich inne, horchen Sie in sich hinein und fragen Sie: Wie würde ich mich in diesem Augenblick fühlen, was würde ich mir wünschen, was würde mir jetzt guttun, wenn ich dieser Patient/dieser Angehörige in dieser Verfassung wäre? Wetten, dass Sie dann selber spüren, wie hilfreich „so scheinbare Nebensächlichkeiten“ sind wie ein Lächeln der Krankenschwester, ein Wort des Mitgefühls, ein gastfreundliches Ambiente?!

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In: Schädle-Deininger, Wolff, Walter (Hrsg.)

Wegbeschreibungen
DENK-Schrift über psychiatrisch-pflegerisches HANDELN
Mabuse.Verlag Frankfurt a.M., 2000, S. 125 ff.