Forschung

DGSP-Symposium
Für wen forscht die Psychiatrie?
FU Berlin, 21.02.1997

Susanne Heim:
Forschen für mehr Lebensqualität

Mein Interesse an psychiatrischer Forschung ist - sozusagen - schicksalhaft und pragmatisch, praxis-orientiert, denn ich bin von ihren Ergebnissen direkt und indirekt betroffen: zum einen als psychiatrie-erfahrene, depressionsgeplagte Langzeitpatientin, zum andern als Mutter eines chronisch psychose-kranken Sohnes - und, da ich mich seit vielen Jahren in der Angehörigen-Selbsthilfe engagiere, auch als Multiplikatorin für neue Erkenntnisse und Information.

Ich möchte meinen Anspruch an Forschung mit Goethe so formulieren:
"Es ist nicht genug zu wissen, man muß auch anwenden; es ist nicht genug zu wollen, man muß auch tun." Um es an einem praktischen Beispiel zu verdeutlichen: Mir genügt es nicht, herauszufinden, daß und in welchen Abstufungen Kinder psychisch kranker Mütter und/oder Väter mit einem erhöhten Erkrankungsrisiko belastet sind. Mir ist unbegreiflich, wie lange selbst die Sozialpsychiatrie sich damit zufrieden gab, diese Erkenntnisse zu zitieren, ohne weiterzudenken und folgerichtig nachzufragen, was genau die Belastungen ausmacht, was das Risiko mindern könnte, welche Unterstützung solche Kinder nötig haben! "Wissenschaften entfernen sich im Ganzen immer vom Leben und kehren nur durch einen Umweg wieder dahin zurück", sagt Goethe. Ich weiß nicht, ob das - zumal in den Humanwissenschaften - so sein muß und so bleiben muß.

Ja, für wen forscht eigentlich die Psychiatrie?
Angehörige können sich gelegentlich des Eindrucks nicht erwehren, Forschungsprojekte dienten in erster Linie dazu, das Renommee der Forschenden zu fördern und den Umsatz der pharmazeutischen Industrie. Wohl und Würde der Betroffenen, ihre Lebensqualität scheinen allenfalls am Rande ins Blickfeld zu geraten, eher mal als Studienobjekt, denn als Studienziel. 

Angehörige an Forschungsplanung beteiligen!

Wir Angehörigen haben bislang weder potentiell noch tatsächlich einen nennenswerten Einfluß auf Forschung, sind aber von ihrem Tun und
(Unter-)Lassen, ihren Methoden, ihren Resultaten und Postulaten hautnah betroffen. Als Vertreterin der Spezies "schizophrenogene Mutter" bin ich mir freilich nicht sicher, ob wir - alles in allem - bis dato mehr Schaden oder Nutzen zu verbuchen haben. Um unsere Bilanz zu verbessern, müßten Forscher mehr mit Angehörigen als über Angehörige sprechen, weniger über sie spekulieren als viel mehr mit ihnen gemeinsam nachdenken. Sie an Forschungsplanung, an der Formulierung von Forschungszielen beteiligen. Ich denke, das brächte ein bißchen mehr Leben, Alltagserfahrung, in den Elfenbeinturm - ganz im Sinne des spanischen Sprichworts: "Die Wissenschaft ist Wahnsinn, wenn gesunder Menschenverstand sie nicht heilt." Einer Verlautbarung des Verbandes Forschender Arzneimittelhersteller aus dem vergangenen Jahr entnehme ich - Zitat: "Die Herausforderungen an die Arzneimittelforschung sind trotz aller Erfolge nach wie vor groß. Bei zwei Drittel - etwa 20.000 - aller bekannten Krankheiten ist bislang keine erfolgversprechende Behandlung möglich." *)

Da schneidet die Psychiatrie ja noch relativ gut ab. Doch bei allen Errungenschaften der letzten Jahrzehnte: Ich finde, man kann sich nur wundern, welchen Stellenwert die Psychiatrie der medikamentösen Behandlung einräumt, obwohl sie es längst besser weiß.

Ich bin weit entfernt davon, Psychopharmaka zu verteufeln. In meinem Falle haben sie zwar auf der ganzen Linie versagt. Bei meinem Sohn aber sieht - oder sähe - die Sache anders aus. Er gehört jedoch zu der Phalanx von Beispielen dafür, daß mit noch so wirksamen Medikamenten allein kein dauerhafter Erfolg zu erzielen ist. Es braucht dazu eine ebenso wohldosierte, langfristige therapeutisch psychosoziale Begleitung.

Freilich, ein nicht geringer Teil der Angehörigen baut, allzu medikamenten-gläubig, auf die Pharmaforschung und mißtraut zutiefst allem, was psycho-therapeutisch daherkommt. Schließlich wurden die Angehörigen psychisch Kranker jahrzehntelang - und auch heute noch! - von schuldzuweisenden Theorien offen oder unterschwellig als Krankmacher diffamiert, verunsichert, verletzt, an den Pranger gestellt. Da bleibt ihnen ja nur die Hoffnung, daß eines Tages doch noch ein nebenwirkungsfreies Wundermittel und/oder das alles regelnde Gen gefunden wird.

Trotzdem - und gerade deshalb lauten meine grundlegenden Forderungen: Medizin und Psychologie müssen sich endlich miteinander verbinden und verbünden - gerade in der Psychiatrie! Die psycho- und soziotherapeutische Forschung muß in der Psychiatrie endlich mehr Gewicht bekommen. Sie muß mindestens so intensiv betrieben werden wie die Arzneimittelforschung! Schließlich leiden auch psychisch Kranke, wie alle anderen Patienten, wie alle Menschen, mit der Seele - nicht nur mit dem Hirnstoffwechsel! Und nicht alles, was ein Psychiater nicht versteht, ist gleich psychotisch - oder "borderline".

Die Psychiatrie muß vor allem Feldforschung betreiben; Empirie vor Theorie! Die Psychiatrie muß endlich aufhören, jedes Körnchen Wahrheit zu generalisieren, um daraus eine neue Ideologie zu kreieren und dabei womöglich auch noch Ursachen und Wirkung zu verwechseln.

Empirie vor Theorie!

Nachdem allgemein akzeptiert ist, daß eine psychische Erkrankung nicht auf eine einzige, eindeutige Ursache zurückgeführt werden kann, muß das Augenmerk endlich darauf gerichtet werden, wie die Psychiatrie humaner werden kann, wie sie respektvoller mit ihren Patienten umgehen, sie umfassender und effektiver behandeln kann, um ihnen zu mehr Lebensqualität zu verhelfen.

Wie lassen sich Zwang und Gewalt in der Psychiatrie verhindern oder doch wenigstens vermindern? Welche Faktoren sind verantwortlich für krisenhafte Zuspitzungen - und was wirkt deeskalierend?

Wie läßt sich - wenn es denn sein muß - eine notfalls auch unfreiwillige Klinikeinweisung so ruhig und unspektakulär gestalten, daß sie den Patienten nicht demütigt, daß sie für ihn und seine Angehörigen nicht zum unauslöschlichen Schockerlebnis wird - oder auch zur triumphalen Machtprobe mit Blaulicht und Martinshorn?

Wie läßt sich auf Akutstationen eine Atmosphäre schaffen, in der sich die Patienten und ihre Angehörigen angenommen und geachtet fühlen können?

Wie und wie weit können Stationen offengehalten werden?

Wie läßt sich die Compliance der psychiatrisch Tätigen verbessern?

Wie muß deren Aus- und Weiterbildung verändert werden, um zu einer ganzheitlichen Wahrnehmung und hilfreichen Zuwendung zu befähigen? Allzuoft sind Begegnungen zwischen den sogenannten Profis und Angehörigen (wie auch den Patienten) lehrbuchreife Musterbeispiele für "gestörte Kommunikation", die jener in sogenannt schizophrenogenen Familien in nichts nachsteht, dort aber angeblich die Krankheit verursacht.

 Überhaupt sollte die Forschung auch einmal der Frage nachgehen, welche menschlichen Qualitäten einen guten, einen erfolgreichen Psychiater auszeichnen. Ich bin sicher, dabei würde auch deren Rückwirkung auf die Compliance der Patienten deutlich.

 Angehende Mediziner - Menschen also, die einen Heilberuf ausüben wollen -lernen schon im Vorstudium, vom 2., 3. Semester an, Leichen und Leichenteile zu sezieren - nicht aber den Umgang mit lebenden, fühlenden, leidenden Mitmenschen. Man muß sich also nicht wundern, wenn sie später höchst selten auf die simple Idee kommen, sich immer wieder einmal zu fragen:

Wie würde ich mich fühlen,
wenn ich selber oder
wenn mein Angehöriger dieser Patient / in dieser Verfassung wäre?
Was würde mir dann guttun?
Was wäre für mich in dieser Situation wichtig?

Manches ist - wäre! - so einfach und es bräuchte dazu keine teure Forschung. Habe ich meine Gefühle aber - notgedrungen - erst mal gründlich genug ab-gespalten und vergraben, dann ist es müßig, mir per EEG nachzuweisen, daß sie doch noch irgendwo gespeichert sind. Solange ich es mir nicht (mehr) leisten kann, meine Angst, meinen Schmerz, meine Wut zu spüren, so lange hilft mir auch das originellste Hirnstrom-Muster nicht auf die Sprünge.

Wenn die Effizienz der immer kürzer währenden stationären Behandlung nicht nur die Rotation der Klinik-Drehtür beschleunigen soll, dann muß sich das Augenmerk der Forschung viel stärker auf den eigentlichen Lebensbereich der Betroffenen richten, um wirksame psychosoziale, stützende Begleitungsangebote insbesondere für die langfristig beeinträchtigten, chronisch Kranken und ihre Familien zu entwickeln.

Feldforschung - extramural

Hier öffnet sich ein weites Feld für Forschung mit dem Ziel, mehr zu verstehen, Vermutungen zu verifizieren, die bislang das Handeln bestimmen, und den wechselnden, unterschiedlichen Hilfebedürfnissen gerecht zu werden.

Welche Lebens- und Arbeitsbedingungen, welche Wohnformen sind für welche Menschen förderlich? Welche alltagsbegleitende Unterstützung braucht wer wann?

Was brauchen Menschen, die durch die Raster aller ehrgeizigen Konzepte fallen, die sich nur durch Rückzug und Verweigerung gegen jedwede Bedrohung ihrer Autonomie zu wehren wissen, die in die Obdachlosigkeit abdriften, weil sie keinen Raum finden, wo sie einfach sein dürfen, ohne Reha-Druck und therapeutischen Anspruch - unbefristet, solange sie solchen Schonraum nötig haben, vielleicht auch für immer.

Wie lassen sich tragfähige soziale Netzwerke aufbauen?

Wie unterschiedlich gehen die Menschen mit ihren Psychosen um, was stärkt, was schwächt ihre Selbstheilungskräfte?

Warum, so fragte kürzlich im Kölner Psychose-Forum eine ehemalige Patientin, die sich ihres Erfolges nicht sicher werden kann:

Warum beschäftigt sich die Forschung nicht mit den positiven Verläufen, um herauszufinden, welche Faktoren die Genesung beeinflußt, die Heilung bewirkt haben? Statt dessen heißt es womöglich, wenn es jemand auf Dauer geschafft hat: Na ja, das war ja gar keine richtige Psychose.

Auch hier ist Goethe richtungsweisend, wenn er mahnt: "Die Wirksamkeiten, auf die wir achten müssen... sind:
vorbereitende
begleitende
mitwirkende
nachhelfende
fördernde
verstärkende
hindernde
nachwirkende."

Will sagen: Der forschende Blick darf sich nicht immer nur auf die Defizite konzentrieren. Das Interesse muß sich viel stärker den Ressourcen zuwenden, den Talenten, den Kompetenzen der Betroffenen (und der Beteiligten).

Wie können sie geweckt und gefördert werden. Worauf ist bei der Gratwanderung zwischen Unter- und Überforderung zu achten, um Abstürze möglichst zu vermeiden? Wie können Angehörige und/oder andere Begleiter dabei hilfreich sein, ohne zu behindern?

 Man weiß schließlich, wie stark die wechselseitige emotionale Abhängigkeit, ja die Verhakelung zwischen Erkrankten und Angehörigen ist. Man kennt die förderliche Wirkung einer akzeptierenden, zuversichtlichen Gelassenheit, die nicht nur dem Familienklima zugutekommt, sondern auch dem Gesundungsprozeß.

Wie können Angehörige, aber auch Patienten, ermutigt und befähigt werden, eine solche Haltung zu entwickeln - und sie nicht gleich über Bord zu werfen, wenn sich ein sogenannter Rückfall anbahnt, vielleicht auch nicht zu verhindern ist?

Man weiß, daß Angehörige 36 Stunden nach einer Klinikeinweisung für Ansprache und Hilfsangebote am empfänglichsten sind:

Wie also muß das Angebot beschaffen sein, wie muß es vermittelt werden, um "anzukommen"? Welche Basis-Information brauchen Angehörige, was ist eher überflüssig, verwirrend oder gar entmutigend? Welche kurzfristige, welche langfristige Unterstützung brauchen Angehörige - zumal wenn sie mit den Patienten zusammenleben? 

Man weiß, wie hilfreich eine Angehörigengruppe sein kann - und wie schwierig es oft ist, von Fachleuten initiierte Gruppen in die Selbsthilfe überzuleiten.

Wie könnte eine sinnvolle Arbeitsteilung, zielbewußte Kooperation z.B. zwischen Klinik- und Selbsthilfegruppen vor Ort aussehen? Was bewegt, was hindert Angehörige und auch Patienten, sich nach der Klinikphase auf einen weiterführenden Lernprozeß in der Selbsthilfegruppe einzulassen? Und wie können hilfreiche Strategien auch jenen Angehörigen nahegebracht werden, die zu keiner Gruppe finden?

Forschen für Lehre und Praxis

Daran knüpft sich schließlich auch die Frage nach der Verbreitung und Vermittlung von Forschungsergebnissen. Wie kann erreicht werden, daß neue Erkentnisse möglichst zügig Eingang finden in Lehre und Praxis? Daß längst überholte Mythen und alte Hüte nicht von Generation zu Generation ungeniert unkorrigiert weitergereicht werden? 

Ich kenne nicht wenige Angehörige, die umfassender informiert und auf dem Laufenden sind als viele Psychiatrie-Profis - was ja, auf beiden Seiten, eher zur Verfestigung als zur Auflösung von Animositäten führt. So sehr es unsereinem auch schmeichelt: Es ist ja nicht gerade vertrauenbildend, wenn z. B. im Rahmen von psychoedukativen Veranstaltungen herauskommt, daß der Wissensstand professioneller Helfer sich von dem der Angehörigen nicht wesentlich unterscheidet...

"Die Deutschen", sagt Goethe, "besitzen die Gabe, die Wissenschaften unzugänglich zu machen.
Der Engländer ist Meister, das Entdeckte gleich zu nutzen, bis es wieder zu neuer Entdeckung und frischer Tat führt.
Man frage nun, warum sie uns überall voraus sind?"

Die Zitate stammen übrigens aus "Wilhelm Meisters Wanderjahre" in der Vollständigen Ausgabe letzter Hand, erschienen 1829 - vor einhundert und 68 Jahren!

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*) Quelle: Verband Forschender Arzneimittelhersteller e.V., Bonn "Kompakt '96 - Zahlen und Fakten"