Psychotherapie

Soziale Psychiatrie 4/1998

Mythen, Moden, Missverständnisse
Psychotherapie und Angehörige in der Psychiatrie
Von Susanne Heim

Verrückte Welt: Psychiater sind, nimmt man sie beim Wort(sinn), Seelenärzte. Doch von Psychologie und Psychotherapie halten sie weit weniger als von Biochemie und Pharmako­therapie, sprich: Manipulation des Hirnstoffwechsels. Kaum eine andere medizinische Disziplin schenkt seelischen Faktoren, deren Einfluß auch auf "rein" körperliche Befunde und Prozesse u.a. von Psychosomatik und Psychoneuroimmunologie längst nachgewiesen wurden, heute noch so wenig Beachtung wie ausgerechnet die Psychiatrie. So kann es einem Psychose­erfahrenen leicht passieren, daß er seinen Psychiater um Gespräche bittet, zusätzlich zur vierzehntäglichen Spritze - und beschieden wird: "Was wollen Sie denn damit?! Das bringt Ihnen doch nichts." Beklagt wird dann am Ende die fehlende Compliance des Patienten - nicht etwa des Doktors.

Andererseits: Psychologisch versierte Nichtmediziner haben zumeist wenig Ahnung von Psychiatrie. Als überzeugte Psychotherapeuten halten sie wenig bis gar nichts von Psychopharmaka und pflegen ihrerseits beschränkte Sichtweisen und berufsständische Animositäten. Einig sind sie unter sich und mit den Psychiatern allerdings, wo es um Schuldzuweisungen und Double-bind-Botschaften an die Angehörigen ihrer Klientel geht: Diese Krankmacher sollen sich gefälligst aus allem heraushalten, aber jederzeit mit offenem Herzen und Geldbeutel (ver-)sorgend zur Verfügung stehen!

Ambivalenz und Polarität der professionellen Helfer finden sich bei den Angehörigen wieder. Auch sie sind sich in einem einig: Wie die meisten Patienten vermissen sie in der Psychiatrie das Gespräch als vertrauensbildende Voraussetzung für adäquate Behandlung, "Compliance" und Kooperation. Hilfreiche, therapeutische Gespräche stehen ganz oben auf ihrer Wunsch­liste. Sie verstehen darunter einfühlsam interessierte Zuwendung, die ermutigt und hilft, Fähigkeiten (wieder) zu entdecken und Selbstvertrauen zu entwickeln.

Psychotherapie im engeren Sinne aber stößt bei Angehörigen psychisch Kranker einerseits auf ungetrübte Heilserwartung, andrerseits auf vehemente Ablehnung. Oft genug von Psychiatern warnend bestätigt, setzen viele von ihnen Psychotherapie mit (orthodoxer) Psychoanalyse gleich, die im Ruche steht, für Psychosepatienten höchst gefährlich zu sein. Freilich, auch wer ursprünglich positiv eingestellt und offen war, womöglich selber psychotherapeutische Hilfe gesucht hat, kann stigmatisierende Beschuldigungen beim besten Willen nicht als hilfreich erleben. Davon aber mögen professionelle Helfer offenbar nicht lassen. Ungeachtet aller seriösen, kontrollierten Studien, die bereits vor einem Vierteljahrhundert eilfertige Verwechslungen von Ursache und Wirkung korrigiert, Mythen und Moden widerlegt haben: Die "schizophrenogene" Mutter feiert in Fachbüchern und Therapeutenköpfen immer noch fröhliche Urständ. Helm Stierlin etwa, von Haus aus Psychiater und ein Pionier der Systemischen Therapie, charakterisiert solche Mütter als "unerbittliche Folterknechte" und "dramatisierende, frigide Hysterikerinnen". Immerhin entdeckte er, daß auch psychisch Kranke Väter haben - die er sogleich als "Zwangstypen" und "sexuelle Krüppel" entlarvt (1992).

Subjektive Wirklichkeit als objektive Wahrheit

Nun ist es das verquere Familiensystem, das mit seiner "gestörten Kommunikation" den "Indexpatienten" in die Psychose treibt - und das, nach Auskunft niedergelassener Psychiater, vorzugsweise nach Dienstschluß, am Freitagabend. "Wie allgemein bekannt," postuliert der renommierte Mailänder Psychiater und Familientherapeut Luigi Boscolo (1996), "zeichnen sich Familien in schizophrenen Transaktionen durch rigide Beziehungsmuster, Gefühle und Gedanken aus." Seine Kollegin Mara Selvini Palazzoli wählt (1992) als Titel und Sujet eines ganzen Buches "Die psychotischen Spiele der Familie", die sie als "wahre Fundgrube an Pathogenität" denunziert. Und Stierlin-Adept Fritz Simon vergleicht "dieses Verrücktheit hervorbringende System mit einem Staat, in dem Bürgerkrieg herrscht. Man weiß nie, wer gerade mit wem kämpft... Es gibt keine verläßliche Aussprache, hinter jeder Ecke kann ein Schütze lauern..."

Wie ist es möglich, daß angesehene Vertreter ihrer Zunft vergessen, was in der Psychotherapie zutagegefördert und bearbeitet wird: nämlich das persönliche Erleben - subjektive Wirklichkeit, nicht objektive Wahrheit. Wie ist es möglich, daß Therapeuten ihre eigenen Maximen miß­achten? Wessen Realitätsbezug ist da gestört? Verraten derart blindlings generalisierende Therapeuten womöglich weit weniger über ihre Klienten als über sich selbst und ihren eigenen familiären Hintergrund? Man könnte ja auch einmal untersuchen, wie es kommt, daß solche Indextherapeuten offenbar nur Menschen aus und mit Familien treffen/wahrnehmen, die ihr rigides Weltbild bestätigen. Wie würden sie dieses Phänomen bei ihren Klienten deuten? In offenen Angehörigengruppen und trialogischen Psychoseforen findet sich jedenfalls eine ganz andere Bandbreite, eine Vielfalt unterschiedlichster Temperamente, Konstellationen und Geschichten. Die Teilnahme an solchen Veranstaltungen müßte für Psychiater und Psycho­therapeuten verpflichtender Baustein ihrer Ausbildung sein. Damit sie rechtzeitig gewahr werden, was einen Gast aus der Klinik unlängst in einer Kölner Angehörigengruppe frappierte: daß nämlich "nicht nur die Angehörigen etwas mit den Patienten machen, sondern daß auch die Patienten viel mit ihren Angehörigen machen"... Ach ja: Lehre tut viel, das Leben mehr - sagen die Iren. Dennoch fragt man sich angesichts solcher Erfahrungen, wovon Psychologie eigentlich handelt.

Verständlich wird allerdings, daß eingedenk der Urteilssprüche der prominenten Kollegen Psychiater, Psychotherapeuten und andere professionelle Helfer nur selten den Mut aufbringen, sich als Angehörige zu erkennen zu geben. So wird es noch lange dauern, bis sich die leiseren Stimmen durchsetzen, die nachdenklicheren Geister, die bereit und in der Lage sind, sorgfältig hinzuschauen, vollständiger wahrzunehmen, behutsam Schlüsse zu ziehen.

Integration durch Kooperation

In ihrer Gesellschaft fällt es nicht mehr ganz so schwer, für Psychotherapie zu plädieren, darauf zu bauen, daß durch sie der Blickwinkel erweitert werde: von der medizinischen, defizit-fokussierten Sicht zur psycho- und soziodynamischen Ressourcenorientierung, von der Fixierung auf Symptome der Krankheit zur Wahrnehmung von Symptomen der Gesundung. Die Betrachtung von Lebenszusammenhängen muß in der Psychiatrie ebenso ihren Platz finden wie die Auseinandersetzung mit Gefühlen, dem Er-Leben. Nur wenn wir die eigenen Talente und Handlungsspielräume entdecken, können wir Strategien zur Bewältigung unseres Lebens in und mit seinen Grenzen entwickeln! Die Rekrutierung von Sündenböcken mag ja entlasten, macht aber das vermeintlich machtlos passive Opfer zum bedauernswerten Schwächling, der keine Verantwortung tragen muß und kann, unfähig, eigene Verhaltensweisen in Frage zu stellen oder gar zu modifizieren, um eigenständig(er) zu werden. Hilfe zur Selbsthilfe - wenn die nervige Familie und/oder die schikanöse Gesellschaft an allem schuld ist? Die kann ich doch nicht verändern!

Es ist höchste Zeit, die Feindbilder allesamt einzumotten, ideologische Konkurrenzkämpfe und berufständisches Kompetenzgerangel zu beenden. Alle reden von Integration - betreiben aber eifrig Ausgrenzung und Abschottung. Psychotherapie und Psychiatrie müssen sich, fach- und methodenübergreifend, auf den Patienten und seine jeweiligen Bedürfnisse ausrichten, nicht umgekehrt und nach dem Motto, wer nicht in mein Konzept paßt, hat Pech gehabt. Psycho­therapie und Psychiatrie müssen endlich zusammengehen: als gleichwertige, gleichberechtigte Stützen der Behandlung psychischer Leiden. Ihr gemeinsames Interesse darf sich nicht nur auf möglichst hoch motivierte Patienten beschränken. Die Förderung und Festigung von Behand­lungs-/Therapiebereitschaft - mit oder ohne Medikation - muß im Zweifelsfall ein erstes Ziel, nicht Voraussetzung der therapeutischen Arbeit sein. Krankheit und Gesundung sind schließ­lich Prozesse, die zu unterschiedlichen Zeiten durch unterschiedliche Faktoren beeinflußt werden (können).

Orientierungshilfen für Angehörige

Wie jedes Heilmittel hat auch Psychotherapie erwünschte Wirkungen und unerfreuliche Nebenwirkungen - die vor allem den unmittelbar mitbetroffenen Bezugspersonen zu schaffen machen. Es ist deshalb ein Kunstfehler, wenn die nächsten Angehörigen nicht darüber aufgeklärt werden, was Psychotherapie ist und wie sie "funktioniert". Viele kränkende Mißverständnisse und gescheiterte Therapien sind auf diese Unterlassung zurückzuführen! Weil Angehörige nicht hilfreich sein und sich verhalten können, wenn sie den Eindruck gewinnen - womöglich in Schach gehalten durch gezielte Äußerungen des Patienten -, nun werde ihnen wieder alle Schuld zugeschoben. Weil sie verständlicherweise gegensteuern, wenn sie glauben (müssen), der Erkrankte werde gegen sie aufgehetzt. Schließlich sind sie es, die im Notfall - und wenn Profis nicht mehr weiterwissen - immer wieder herhalten, stützen und versorgen sollen. Finanzieren sowieso.

Auch Angehörige haben deshalb nicht nur Empathie nötig. Sie haben Anspruch auf Respekt und Orientierungshilfen. Das heißt nicht, daß sie über Inhalte therapeutischer Gespräche informiert werden sollen. Auch Angehörige halten viel von Vertrauenswürdigkeit! Diese aber ist, nach ihrem Verständnis, unvereinbar mit der allgemein üblichen Praxis, den Patienten brühwarm zu hinterbringen, was Angehörige dem Arzt oder Therapeuten anvertraut haben! Gefragt ist weder Klatsch und Tratsch noch Geheimnisverrat. Gefragt ist schlicht: Auskunft über Ziel und Zweck des Verfahrens. Und dazu gehört, daß im gegebenen Falle erläutert wird, worüber warum (noch) nicht gesprochen werden kann. Gefragt ist nicht zuletzt Aufklärung über mögliche Begleit­erscheinungen des therapeutischen Prozesses. Nur so kann zuhause um sich greifen und erhalten bleiben, was für die Gesundung der Patienten bekanntlich so wichtig ist: Gelassenheit und Zuversicht. Der Mangel an Hoffnung und positiver Zukunftserwartung ist gemeinhin keiner emotionalen Abartigkeit von Angehörigen zu verdanken, sondern Versäumnissen des Therapeuten.

Leider schleicht sich diese Erkenntnis nur äußerst zögerlich ins professionelle Bewußtsein. Dabei hat die Expertenkommission der Bundesregierung schon 1988 unmißverständlich klargestellt: "Die Vernachlässigung familienorientierter Arbeit muß als wesentliche Ursache für viele Therapie- und Rehabilitationsbemühungen gesehen werden... Fachliche Hilfe ohne Einbeziehung der Familie geht in der Regel an der Sache vorbei." Dies gilt auch für Psychotherapie, erst recht, solange die betroffenen Patienten/Klienten mit ihren Angehörigen zusammenleben.

Susanne Heim, schizophrenogene Mutter und engagierte Vertreterin der Angehörigen-Selbsthilfe,
hat (auch als Patientin) eigene Psychiatrie- und langjährige Psychotherapie-Erfahrung.