Vorsicht Forschung!

Soziale Psychiatrie 3/2003

Vorsicht Forschung!
Gefahr erkannt, Psychiater gebannt?
Von Susanne Heim

Mal Hand aufs Herz: Sie sind schweigsamer geworden und ziehen sich lieber zurück, als mit anderen etwas zu unternehmen? Sie sind eher unsicher oder schüchtern anderen gegenüber? Ihre Stimmung war über Wochen hinweg eher bedrückt, traurig oder verzweifelt? Sie schlafen schlechter als gewöhnlich - z.B. haben Sie Schwierigkeiten beim Einschlafen oder Durchschlafen oder wachen früher auf als sonst… Sie achten weniger als früher auf Ihre persönlichen Bedürfnisse oder Ihre Gesundheit, Ernährung… Kleidung, Ordnung im persönlichen Wohnbereich? Sie sind häufig nervös, unruhig oder angespannt? Sie haben im Vergleich zu früher häufiger Streit und Diskussionen mit Angehörigen, Freunden oder anderen Personen? Ihre Gedanken geraten in Ihrem Kopf manchmal durcheinander? [1]

Wenn Sie drei oder sogar mehr dieser Fragen mit Ja beantworten können, dann haben Sie die „initiale Prodromalphase“ womöglich schon erreicht und sollten sich einem der Früherkennungs- und Behandlungs­zentren (in Köln, Bonn, Düsseldorf oder München) anvertrauen – vorausgesetzt, Sie spielen gern mit Risiko.

Vielleicht haben Sie ja Glück. Dann erwartet Sie neben „einer ausführlichen Diagnostik zur Abschätzung eines erhöhten Psychoserisikos… eine Beratung, die sich ganz auf die individuelle Lebenssituation bezieht… Sollten sich in der Tat Hinweise auf eine erhöhte Psychosegefährdung ergeben, würde sehr sorgfältig miteinander überlegt werden, wie man dem in der konkreten Lebenssituation am besten entgegenwirken kann.“ [2]

Vielleicht kommt es aber auch ein bisschen anders[3]: Nach einem ersten Gespräch mit einem Psychologen des Zentrums durchlaufen Sie über einen Zeitraum von 2-3 Wochen eine „ausführliche Untersuchung mit dem Früherkennungsinventar und anderen Instrumenten“ wie Kernspintomographie des Kopfes, EEG, EKG, neuropsychologischen Untersuchungen, Tests, Interviews etc. Danach wird Ihnen in einem gemeinsamen Gespräch mit Arzt und Psychotherapeut eröffnet, dass Sie unbedingt einer medikamentösen Therapie bedürfen. Gleichzeitig bietet man Ihnen eine umfassende Beratung und Betreuung an mit der zuversichtlichen Prognose, dass Sie den Faden Ihrer Lebensplanung in absehbarer Zeit wieder aufnehmen und dort anknüpfen können, wo er Ihnen vorübergehend entglitten ist.

Studie mit Risiko

Bei weiteren Gesprächen mit den beiden erfahren Sie von einer Studie, zu der Ihr Störungsbild genau passt – weshalb Sie gebeten werden, daran teilzunehmen. Zum Nachlesen erhalten Sie eine 5-seitige Patienteninformation; an der hängt auch gleich ein „Schriftliches Patienteneinverständnis“ zum Unterzeichnen. Das Studium dieses Papiers bringt Sie ganz schön ins Schleudern, wird Ihnen doch einleitend bescheinigt: „Wenn Ihr Arzt Ihnen die Teilnahme an dieser Studie vorschlägt, so hat er festgestellt, dass die bei Ihnen vorliegende psychische Symptomatik ein hohes Risiko in sich birgt, an einer Psychose zu erkranken. Man nennt dies eine Vorläufer- oder Prodromalsymptomatik.“ Im Abschnitt „Behandlungsmöglichkeiten“ erfahren Sie, dass es „bisher in diesem Bereich noch keine anerkannte Therapie“ gibt. Allmählich dämmert Ihnen, was das ist: eine „doppelblinde, randomisierte, parallele, placebo-kontrollierte Studie“ – und worauf Sie sich da einlassen, wenn Sie sich darauf einlassen.

Geprüft wird, ob ein bestimmtes Neuroleptikum der neueren Generation, das bei der Behandlung von Psychosen eingesetzt wird, auch zur Prophylaxe geeignet ist, also den Ausbruch einer Psychose verhindern kann – wenn man es früh genug vorbeugend einsetzt… Wann ist eine Psychose eine Psychose und als solche zu erkennen? Aber dann ist es doch bereits zu spät für „Prophylaxe“?! Andrerseits, so werden Sie sich vielleicht fragen: Wenn ich vorsichtshalber schon ein (nachweislich wirksames) Medikament eingenommen hätte, bevor ich überhaupt Beschwerden hatte – woher wüsste ich dann, ob ich überhaupt krank geworden wäre und wann ich das Verhüterli ohne Bedenken wieder weglassen kann?

Doch damit nicht genug der Bedenken, denn Sie haben verstanden: Bei einer Wirksamkeitsprüfung sollen psychologische Effekte ausgeschlossen werden. Deshalb wird das fragliche Medikament nicht nur mit einer biochemisch unwirksamen Substanz verglichen, es dürfen darüber hinaus weder die Behandler noch die Behandelten wissen, mit welchem Mittel sie zu Gange sind. „Die Zuordnung zu einer der beiden Behand­lungsgruppen erfolgt zufällig nach einer vorher festgelegten Reihenfolge und kann durch Ihren Arzt nicht beeinflusst werden.“ Will sagen: Sie müssen damit rechnen, dass Sie in die Gruppe derer geraten, denen zwei Jahre lang ein Placebo verabreicht wird. Aber hatte man Ihnen nicht nachdrücklich dargelegt, dass bei Ihnen eine medikamentöse Behandlung notwendig ist? Eine solche Empfehlung wird doch angeblich erst dann ausgesprochen, „wenn es nun ganz hart auf hart kommt und schon die Psychose kurz bevorsteht“!? [4]

Nach einer schlaflosen Nacht entscheiden Sie sich schließlich für das scheinbar weniger riskante Verfahren: die Medikation. Im Früherkennungszentrum stolpern Sie daraufhin prompt in die Kluft zwischen Theorie und Praxis: Eine medikamentöse Behandlung außerhalb der Studie gibt es nicht. Aus der „breiten Palette an Angeboten“[5] bleibt für Sie nur noch ein bescheidenes psychologisches Programm in Form von Gesprächen übrig – zur vergleichenden Verlaufskontrolle?

Patienten mehr als Datensätze

Hoffentlich werfen Sie nun nicht gleich so entnervt das Handtuch, wie Franziska P. Ihren Eltern war es mit viel Überredungskunst endlich gelungen, sie zu einem Vorstellungs­­termin im Früherkennungs­zentrum zu bewegen. Doch nach dem ersten Gespräch brach sie den Kontakt entrüstet ab: Sie habe sich von den Gesprächspartnern dort „wie statistisches Material behandelt“ gefühlt. Nun hat sie sich wieder ins Bett und in die totale Verweigerung zurückgezogen.

Es ist ein Jammer. Denn so viel haben die eifrigen Forscher immerhin schon herausgefunden: Im noch relativ psychosefernen Prodromalstadium ist eine „spezifische Psychotherapie besser als die magere Standardtherapie.“[6] Wer hätte das gedacht! Andrerseits hat man Ihnen doch vermittelt, dass Sie sich bereits im relativ psychose-nahen Stadium befinden, und Sie erinnern sich an die Aussage: „Ein möglichst früher Beginn der medikamentösen Therapie lindert nicht nur die Symptome, sondern beeinflusst den Krankheitsverlauf insgesamt günstig. Therapiestrategien, die ganz auf die Gabe von Neuroleptika verzichten, haben sich nicht als wirksam erwiesen.“ [7] Ja, was denn nun?

Vielleicht sollten Sie sich doch ein Herz fassen und dem Beispiel jenes mutigen jungen Mannes folgen, der in einer Sendung von WDR 5 über seine Erfahrungen im Kölner FeTZ berichtete: Er hatte infolge schwerer Angstzustände und Wahrnehmungsstörungen sein Studium aufgeben müssen und sah nun auch die begonnene Tischlerlehre gefährdet. Seine Beschwerden wurden als „beginnende Psychose“ diagnostiziert. Trotzdem hat sich Dietmar Z. gegen die Einnahme des empfohlenen Medikamentes entschieden, aber für die Teilnahme am übrigen „multimodalen Therapieprogramm“. Und es nicht bereut. Was ihm geholfen hat, so sagt er, sind „die Gespräche an sich und die Sicherheit, dass da jemand da ist, auf den man immer zurückgreifen kann, wenn es einem wirklich schlecht geht. Und aber auch, dass man gesehen hat, dass es eigentlich gar nicht so schlimm ist, was man hat – im Nachhinein, wenn man darüber geredet hat.“[8]

Eine Erfahrung, die wir alle kennen – auch ohne drohende Psychose. Deshalb stehen hilfreiche Gespräche ganz oben auf der Wunschliste psychiatrieerfahrener Menschen! Aber so einleuchtende Antworten verhallen im Elfenbeinturm. Wissenschaftler scheinen sich nur für solche Ergebnisse zu interessieren, die neue Fragen aufwerfen, die neue spekulative Studien begründen – Forschung als Selbstzweck und Perpetuum mobile? Dafür jedenfalls garantieren solche Projekte. Was aber profitieren die identifizierten „möglichen Risikoträger“, die als „Risikostichproben“ und die als Kontrollgruppe (ohne Risikoverdacht) rekrutierten Menschen von der aufwändigen Suche nach möglicherweise korrelativen molekulargenetischen Risikoindikatoren, neuropsychologischen, neurophysiologischen und neuromorphologischen „Normabweichungen“?

Wissen wahr nehmen

Viel sinnvoller und effektiver wäre es, das längst zur Verfügung stehende Wissen zu verbreiten und anzuwenden! Empowerment für professionelle Helfer tut Not! Ärzte incl. Psychiater, Psychotherapeuten und andere im psychosozialen Feld Tätige müssen befähigt werden, Anzeichen einer beginnenden Psychose zu erkennen und im Zweifelsfalle aufmerksam anteilnehmend gesprächsfähig zu sein, entängstigend zu wirken, Wege zu weisen, stützend zu begleiten. Wie viel Leid wäre mir und meinem Sohn möglicherweise erspart geblieben, wenn uns damals auf der Suche nach Hilfe ein solcher „Profi“ begegnet wäre! Mich hatten die Symptome alarmiert – die zu Rate gezogenen Fachleute waren da weniger hellsichtig. Dabei ging und geht es darum, Bekanntes und Erkennbares rechtzeitig wahrzunehmen – nicht, mit Indizien aus dem Kaffeesatz zu spekulieren!

Bekömmlichere Lebensbedingungen und eine Psychiatrie, die sich auf den Menschen als soziales Wesen einlässt, ihn nicht nur als Symptomträger betrachtet und nach „potentiellen neurobiologischen Vulnerabilitätsindikatoren“ sortiert, bescheren uns garantiert weniger unerwünschte Nebenwirkungen als der medikamentöse Präventionsversuch aufgrund einer womöglich sich selbst erfüllenden Prophezeiung! Es gibt kein stressfreies, krisenloses Leben – es würde uns zu lernunfähigen tumben Toren machen.

Sie sind aber doch so sensibel? Ja, wollen Sie lieber als unsensibler Zeitgenosse durchs Dasein trampeln? Oder dick in Watte gepackt ein reizloses Leben führen.

Es geht darum, die jeweils ganz persönlichen Grenzen der Belastbarkeit erkennen und beachten zu lernen – Probleme nicht um jeden Preis vermeiden zu wollen, sondern sie als Herausforderung zu verstehen, sich auszuprobieren. Wie können wir unsere Potentiale kennen lernen, wenn wir nie an die Grenzen stoßen, nicht wenigsten einmal darüber hinaus schießen dürfen? Wenn wir immer weit im Voraus anhalten, werden wir niemals wissen, was in uns steckt, wie weit wir gehen dürfen - werden unsere Fähigkeiten niemals voll entfalten, uns nicht weiterentwickeln können. Ein Popanz ist kein guter Ratgeber.

Sie tun also gut daran, alle Ungereimtheiten und Risiken sorgfältig abzuwägen, bevor Sie entscheiden, ob und wofür Sie sich als Forschungsobjekt zur Verfügung stellen. Lassen Sie sich weder blenden noch ins Bockshorn jagen und achten Sie gut auf sich – auch wenn Ihnen das u. U. als „Krankheits­unein­sichtig­keit“ angekreidet wird. Wenn Sie sich selbst ein guter Freund sind, werden Sie gut für sich sorgen und sich einem respektvollen, kompetenten Gesprächspartner anvertrauen. Es gibt sie – unter professionellen Helfern ebenso wie in Selbsthilfegruppen und Psychose-Seminaren!

Vielleicht reicht Ihnen schon eine achtsam rückenstärkende Begleitung, um (wieder) festen Boden unter die Füße zu bekommen. Vielleicht brauchen Sie und gönnen sich eine Auszeit, um neue Kraft zu schöpfen, Orientierung (wieder) zu gewinnen. Vielleicht greifen Sie vorübergehend auch zu einer medikamentösen Krücke, bis Sie (wieder) sicheres Gelände erreicht haben. Alles ist möglich, was Ihnen hilft – Versuch und Irrtum inbegriffen. Auch Forscher können nur ausprobieren.

Übrigens: Als Fetz bezeichnen die Schwaben einen Lumpen (Gauner), wobei Lump weniger beleidigend ist als Fetz: „Kei Lomp isch er nemme, aber e rechter Fetz, er isch jetzt no schlechter wia a Lomp.“[9] Sollen wir das nun als Indiz werten – für Absicht, Einsicht oder Ahnungslosigkeit der kreativen Namensgeber von FeTZ?

[1]
Fragen aus der Checkliste in „Früh erkennen, früh behandeln“,
Broschüre der Früherkennungszentren der Universitätskliniken
Köln (FeTZ) und Bonn (ZeBB)

[2]
Zitate aus o. g. Broschüre

[3]
Erzählt nach einem authentischen Fall

[4]
Prof. Dr. Joachim Klosterkötter, Leiter des Kölner FeTZ, in der Sendung
Leonardo: „Früherkennung psychischer Krankheiten“ (von Cornelia Schäfer),
WDR 5 am 18.12.2002

[5]
Martin List, Projektarzt des Früherkennungszentrums Düsseldorf,
in einem Vortrag am 22.6.2002

[6]
Zitat aus o. g. Sendung

[7]
Zitat aus o. g. Vortrag

[8]
O-Ton aus o. g. Sendung

[9]
Aus „Thaddäus Trolls schwäbische Schimpfwörterei“,
Silberburg-Verlag, Stuttgart