Im Heim daheim sein (dürfen)

aus Soziale Psychiatrie 2/2000

Öffnen, nicht abschaffen!

Im Heim daheim sein (dürfen)


Von Susanne Heim



"Man muss die Welt so nehmen, wie sie ist, sie aber nicht so lassen", hat der italienische Romancier Ignazio Silone gesagt. Lassen wir also erst einmal die Kirche im Dorf und schauen uns die Welt insbesondere der Einwohner mit andauernder Psychiatrie-Erfahrung etwas genauer an.

Rund zwei Drittel (die Schätzungen schwanken zwischen 60 und 80 %) der chronisch psychisch Kranken leben außerhalb professionell betriebener oder betreuter Einrichtungen: eigenständig, bei der eigenen Familie, bei der Ursprungsfamilie oder in Reichweite ihrer Angehörigen, die sie soweit notwendig begleiten, betreuen, versorgen - als "Laienhelfer" und "ehrenamtliche" sich selbst finanzierende Case-Manager. Außen vor bleibt darüber hinaus die gern vernachlässigte Dunkelziffer: die große Zahl derer, die das psychiatrische Versorgungsnetz meiden wie der Teufel das Weihwasser oder durch die Maschen fallen und, wenn alle Stricke reißen, allenfalls Angebote der Obdachlosenhilfe in Anspruch nehmen. Der Streit um die Heime für psychisch Kranke dreht sich also um einen marginalen Baustein im psychiatrischen Hilfesystem, der einer kleinen, besonders bedürftigen Randgruppe einer Randgruppe zugute kommen soll(te).

Mit dieser Einordnung möchte ich das Problem keineswegs verharmlosen - ganz im Gegenteil. Mich treibt die Sorge um, dass all die selbstsicher wohlwollend radikalen Reformer, die sich neuerdings die Abschaffung der Heime zum Ziel gesetzt haben, wieder einmal mit missionarischem Feuereifer in die nächste Sackgasse stürmen. Wie immer am Ende zum Schaden der Bedürftigsten, um deren Lebensqualität es angeblich geht! Wer hat diese Menschen gefragt, ihnen unvoreingenommen zugehört, nachgespürt, wo und wie sie wohnen wollen? Was sie nötig haben, um sich halbwegs wohl zu fühlen, akzeptiert und respektiert - einfach so, wie sie gerade sind und vielleicht für immer bleiben (wollen)?

Nicht ob, sondern wie Heime sein müssen - das ist die Frage!


Wann endlich spricht sich auch in der Psychiatrie herum, dass die Menschen verschieden sind, dass sie entsprechend unterschiedliche Bedürfnisse haben, dass es also vielfältige Angebote geben muss. Wann endlich wird die Erkenntnis wahr- und ernstgenommen, dass es den einen Königsweg für alle nicht gibt?! Wann endlich wird dieses Wissen zur grundlegenden Leitlinie sozialen und psychiatrischen Nachdenkens und Handelns? Warum in aller Welt muss jede gute Idee gleich rigoros ideologisiert werden? Irrläufer kann man ja mittels Etikettenschwindel schönen - wie etwa die "Enthospitalisierung" von Langzeitpatienten aus alten Großkliniken auf der grünen Wiese in neue Wohn(heim)-Silos.

Dann war die Wohngemeinschaft für psychisch Kranke das einzig Wahre! Und jetzt heißt es also, mit der gleichen Gewissheit unbesehen: eine eigene Wohnung zu haben sei die entscheidende Voraussetzung für soziale Integration und psychische Stabilität. Wer das glaubt, sollte einmal beim Sozialpsychiatrischen Dienst hospitieren und ihn bei Hausbesuchen begleiten! Isolation, Hospitalismus, Unter- und vor allem Überforderung sind auch in den eigenen vier Wänden mitten in der Gemeinde zu finden - und nicht zu knapp! Schließlich kommt es nicht von ungefähr, wenn Angehörige bei allen Befragungen die soziale Isolation der ganzen Familie als einen der wesentlichsten Belastungsfaktoren beklagen. Deshalb dürfte die Beliebtheit der Psychose-Seminare bei Betroffenen und Angehörigen nicht zuletzt darauf beruhen, dass ihnen hier ein Forum für Begegnung offen steht, wo sie auf Menschen treffen, die sich für ihre Erfahrungen und Bedürfnisse interessieren, wo sie beachtet und geachtet werden, ohne sich erst erklären und bewähren zu müssen.

Soziale Integration und psychische Stabilität kann sehr wohl auch - und nicht selten erst dann - möglich werden, wenn das Zuhause in einem Heim angesiedelt ist. Die Frage ist nicht ob, sondern wie Heime sein sollen, um nicht zum Ghetto zu werden.

Aufbrechen statt abbrechen!

Auch ein Heim kann man so organisieren, strukturieren, dass die Bewohner weder entmündigt noch entmutigt werden, sondern gestärkt, unterstützt, zu Eigen-Sinn und Eigen-Initiative ermutigt (nicht verpflichtet!). Dass ihre alltagspraktischen Fähigkeiten nicht eingeschläfert, sondern (wieder) geweckt, angeregt, gefördert werden.

Die Heime müssen offen und flexibel werden - nach draußen und nach drinnen. Was wir haben, sind überwiegend Heime mit unterschiedlich hohem Reha-Anspruch. "Passende" Bewerber dürfen sich glücklich schätzen, wenn sie die Wartezeit überstehen, "Prüfung" und Probewohnen bestehen und am Ende des Hürdenlaufes schließlich Einlass gewährt bekommen. Was wir brauchen, sind Heime ohne ehrgeizige Konzepte, ohne Ziel- und Zeitvorgaben. Heime, in denen der einzelne Bewohner mit seinen Stärken und Schwächen Maß gebend ist für Hilfsangebote. Heime, die Bewohner u.U. auch in Ruhe, aber nicht "links liegen" lassen, solange sie in Ruhe gelassen werden wollen - die Eigen-Sinn respektieren (können), ohne in gekränktes Desinteresse zu verfallen. Kein anspruchsloses Konzept also, sondern ein besonders anspruchsvolles, das den Heimbewohnern nichts, sen Mitarbeitern aber umso mehr abverlangt!

Wer sich für meine Freiheitsrechte stark macht, muss mir auch das Recht auf Versuch und Irrtum zubilligen, das Recht, meinen Lebensweg und Lebensstil, meine Nah- und Fernziele selbst zu bestimmen - muss mein ganz individuelles Ringen um psychische Stabilität und persönliche Identität respektieren und aushalten (können), auch wenn dieses vorübergehend oder auf Dauer, einen Schonraum braucht und "Hospitalisierung" einschließt!

Ein Beispiel: Typisch, atypisch? Jedenfalls nicht idealtypisch!

Nehmen wir als exemplarischen "Fall" meinen eigenwilligen Sohn. Den Weg, den professionelle Helfer gemeinhin für idealtypisch halten, ist er in umgekehrter Richtung gegangen: Bevor er sich Ende 1990 zum ersten Mal zu einer stationären Unterbringung hat zwingen lassen, hatte er über zehn, ja, fast 15 Jahre lang jeglichen Zugriff psychiatrischer Fürsorge ebenso stur wie erfolgreich abgewehrt.

Von außen besehen, schien die psychiatrische Behandlung damals geradezu das Wunder einer "Wiederauferstehung" zu bewirken. Mein Sohn verweigerte zwar jegliche Auskunft über seine Probleme, zeigte aber allmählich wieder Interesse für seine Umwelt. Wir konnten wieder locker miteinander plaudern, sogar unterschiedliche, ja gegensätzliche Sichtweisen besprechen, sogar miteinander lachen - wie es seit gut 15 Jahre nicht mehr möglich gewesen war. In seinen Augen aber, von innen besehen, war das alles offenbar weniger erfreulich. Denn bald schon warf er die Medikamente weg und zog sich wieder in seine Welt zurück. Nahm wieder Platz am Straßenrand, um das Leben an sich vorüberziehen zu lassen, ohne sich einzulassen.

Sechs Jahre hat es gedauert, bis er sich 1997 noch einmal (be-)zwingen ließ! Diesmal war die wundersame Verwandlung fast noch eindrucksvoller. Mein Sohn nahm sogar am Stationsleben teil, und als ihm die Gelegenheit geboten wurde, setze er sich ans Klavier - improvisierte so perfekt wie vor 20 Jahren. Als hätte es nie eine Pause gegeben, geschweige denn eine derart ausgedehnte.

Von außen besehen, nach fachlichem und mitmenschlichem Dafürhalten, ging es ihm nun so gut wie lange nicht mehr. Er selbst jedoch war und fühlte sich zutiefst unglücklich. Er nahm das deutlich wahr und hat es sogar geäußert. Er konnte mit sich und seinem Dasein nichts mehr anfangen, nicht mehr auf seine Weise, unverbindlich, am Leben teilhaben. Zuhause fiel ihm die Decke auf den Kopf und er bekam nichts mehr auf die Reihe. So ist er - nach über 20 Jahren des Rückzugs und konsequenter Verweigerung - im Herbst 1997 zum ersten Mal von sich aus, freiwillig, in die Klinik gegangen: der Vollpension wegen!

Sauber, satt und unbehelligt = "verwahrt"?

Um rundum versorgt zu sein, nahm er die Behandlung in Kauf, die er nach wie vor als Zumutung empfindet, weil die Medikamente ihm nicht bekommen, wie er sagt. Von "Krankheitseinsicht" weit entfernt, weigerte er sich standhaft, an irgend welchen therapeutischen Aktivitäten teilzunehmen oder gar ihm "zu persönliche Fragen" zu beantworten, die seine "Privatangelegenheiten" tangierten. Aber er hat beschlossen und bestand darauf, in einem Wohnheim untergebracht zu werden. Mein Sohn, für den absolute Autonomie immer von existenzieller Bedeutung war, wies alle ambulanten Hilfsangebote strikt zurück, gab seine Wohnung auf - und harrte in der Klinik aus, bis er schließlich im Sommer 1998 in die neu geschaffene Sonderabteilung eines Alten- und Pflegeheims umziehen konnte: wo er versorgt, aber nicht behelligt - nach professionellem Urteil also nur "verwahrt" wird.

Er ist jetzt 42 und war dort von Anfang an der jüngste Bewohner unter überwiegend wesentlich älteren chronisch Alkoholkranken. Nur das Betreuer-Team ist so etwa in seinem Alter. Trotzdem fühlt er sich gut aufgehoben, "gut versorgt", wie er sagt. Mittlerweile streckt er die Fühler zunehmend aus seinem Schneckenhaus heraus, wird zugewandter, hält gelegentlich einen Plausch mit dem Team, kommt hin und wieder zu einer Runde Schach aus seinem Zimmer und mischt sich auch schon mal unter die Mitbewohner. Wann, wie oft, wie lange - das bestimmt er ganz allein. Immer öfter - fast schon regelmäßig - ruft er sogar bei Muttern an, einfach "nur" um zu hören, wie's ihr geht.

Mir scheint, er kommt allmählich wieder zu Kräften. Neuerdings denkt er schon darüber nach, ob/wie/wo er "mal wieder was Kreatives machen könnte" - und: welcher Job eventuell in Frage käme, um das Taschengeld ein wenig aufzustocken... Es bewegt sich was - nicht obwohl, sondern gerade weil niemand ihn zu irgend etwas bewegen will!

"Jedes Werden in der Natur, im Menschen, in der Liebe muss abwarten, geduldig sein, bis seine Zeit zum Blühen kommt", mahnt uns Dietrich Bonhoeffer. Menschen wie mein Sohn brauchen ein Heim, das ihnen ohne Vorbedingungen Obdach, Raum und Zeit zum Werden gewährt.