Möglichkeiten und Grenzen der Vernetzung des Wohnens
Im ambulanten, komplementären und stationären Bereich
PSAG / AKE-Klausurtagung, Schloss Gimborn am 11./12.07.2003
Statement Susanne Heim:
Eine Bleibe als Basis – bedingungslos
Erwartungen und Wünsche der Angehörige an begleitetes Wohnen
Bis jetzt haben wir wieder einmal überwiegend einrichtungsbezogen gedacht und mehr von „Plätzen“, „Unterbringungszeiten“, „Bertreuungsschlüsseln“ gesprochen als von Menschen. Ich möchte Sie animieren, das Denken zu öffnen, offen zu denken, orientiert an der Normalität – nämlich an der eigenen, privaten Lebens-Erfahrung:
Wir wohnen / leben in der Regel "zu Hause“ allein, als Paar, in bzw. mit Familie oder in anderen Wohngemeinschaften als Mieter, Untermieter, im Eigenheim.
Nur als Schüler oder Umschüler leben wir evt. vorübergehend im Internat, als Student ggf. im Studentenwohnheim.
Und die meisten von uns schieben den Gedanken weit von sich, sie könnten eines Tages einmal so gebrechlich und pflegebedürftig sein, dass sie in einem Heim versorgt werden müssen, um über die Runden zu kommen.
Ich behaupte: Das alles ist bei psychisch erkrankten Menschen nicht grundsätzlich anders. Denn auch sie sind – grundsätzlich – ganz normale Menschen mit ganz normalen Bedürfnissen und in der Regel nicht bettlägerig pflegebedürftig.
Weil aber Menschen ganz unterschiedlich sind und deshalb auch unterschiedliche Bedürfnisse haben - die zudem je nach Lebensphase und gesundheitlicher Verfassung variieren: deshalb brauchen wie entsprechend unterschiedliche Möglichkeiten des Wohnens – mit mehr und weniger intensiver, möglichst variabler Begleitung.
Das Heim mit Rundum-Versorgung kann und sollte den Schwächsten offenstehen, die bislang überwiegend auf der Strecke bleiben, weil sie sich nirgends einpassen (lassen). Wir müssen endlich anfangen, von unten nach oben zu denken – und nicht immer umgekehrt!
Da sein dürfen
Deshalb fordern wir in erster Linie mehr schwellenlose Wohnangebote ohne Vorbedingungen wie Therapie- und Reha-Bereitschaft:
wo Menschen so sein und bleiben dürfen wie sie sind, so lange sie so sein und bleiben wollen – oder eben nicht anders können!
Ich bezeichne das als Basis–Angebot.
Für viele psychisch kranke Menschen, die heute noch ausgegrenzt bleiben, weil sie sich verweigern, sich notgedrungen jedem „Bewerbungsverfahren“ entziehen – für sie könnte eine in diesem Sinne anspruchslose Bleibe tatsächlich die Basis bieten, den sicheren Boden für allmähliche Entwicklung, deren Tempo und Richtung sie selbst bestimmen.
Wohlgemerkt: Eine solche anspruchslose Einrichtung ist äußerst anspruchsvoll. Aber sie stellt – fast möchte ich sagen: endlich einmal – größere Ansprüche an ihre Mitarbeiter und deren Professionalität als an ihre Bewohner / die Klienten!
Was da möglich werden kann, erlebe ich zur Zeit bei meinem Sohn, der seit 5 Jahren – nach den Richtlinien des LVR fehlplaziert – im Meilenstein logiert, wo er einfach nur versorgt = verpflegt, respektiert und in Ruhe gelassen wird.
Was für ihn möglich gewesen wäre, wenn sich ihm eine solche Chance schon vor 20 Jahren geboten hätte – darüber darf ich gar nicht nachdenken!
Nun plädiere ich keineswegs für die Ausweisung aller weniger schwierigen, weniger bedürftigen Bewohner aus dem Wohnheim, in dem sie – womöglich schon seit Jahren – zu Hause sind und sich heimisch fühlen!
Wir Angehörigen fordern vielmehr die Öffnung der Heime nach drinnen und nach draußen, die Flexibilisierung der Heimstrukturen – auch zugunsten alt gewordener Bewohner!
Das heißt: Durchlässigkeit der unterschiedlichen Wohnformen + flexible Betreuungsintensität unabhängig vom Gebäude, den „vier Wänden“:
z.B. Teilnahme von „Gästen“ aus dem ambulanten „Bewo“ an Angeboten im Wohnheim (Mahlzeiten, Freizeitaktivitäten, Sport- und Kreativangeboten etc.)
Das heißt auch: Normalisierung des Wohnens – nämlich Entkoppelung von Wohnung und Therapie und/oder Arbeit.
Übergänge aus dem Heim in weniger intensiv betreute, „ambulante“ Wohnformen (Einzelwohnen oder WG oder auch in/bei der Familie) müssen dann auch nicht mehr zwangsläufig mit einem Wechsel von Wohnung und Bezugspersonen einhergehen.
Das heißt gleichzeitig, dass eine solche flexibel abgestufte Betreuung bei Bedarf auch den Menschen zuteil werden muss, die bei ihrer Familie wohnen – auch und nicht zuletzt zur Entlastung der Angehörigen in besonders schwierigen Zeiten.
In diesem Sinne fordern wir die Anerkennung der Familien als immer noch größten Träger der ambulanten Versorgung chronisch psychisch kranker Menschen. Sie leisten notgedrungen und selbstverständlich all das, worüber hier nachgedacht wird:
Case-Management, flexible Betreuungsintensität, Tagesstrukturierung etc. – ohne Bezahlung und gelegentlich sogar bestraft durch zusätzliche finanzielle Belastungen.
Und irgendwo muss es schließlich ambulante Krisenbetten geben, die zur Entzerrung angespannter, zugespitzter Situationen kurzzeitig in Anspruch genommen werden können.
Normal denken und handeln
Unabhängig von den vier Wänden, in denen das stattfindet: Auch von den Begleitern beim Wohnen wünschen wir uns normales Denken – ohne pädagogische Anwandlungen und/oder therapeutisches Ver-halten.
Klienten im ambulanten, weniger intensiv betreuten Wohnen benötigen oft konkrete Anleitung: Wie führe ich einen Haushalt?! Ihnen hilft es, wenn Ihnen ein bisschen Struktur vorgegeben wird: z.B. ein gemeinsam erstellter Plan, der in Laufe der Woche/des Monats abgearbeitet werden kann.
Vorgaben und Kontrollen haben mit Bevormundung nichts zu tun! Es ist nicht nur (Nach-)Lässigkeit, sondern schlicht Vernachlässigung, wenn solche Hilfestellung nötig ist, aber unterlassen wird, weil der Klient ja mündig sei und selbständig werden solle.
Abschreckendes Beispiel:
Die Wohnung einer Zweier-WG vergammelt zusehends – der Betreuer nimmt keinerlei Einfluss, schließlich gehen Küche und Bad so halbwegs, weil einer der beiden Bewohner sich immer wieder zähneknirschend für zwei anstrengt. Nach 4 Jahren schaut der Betreuer zum ersten Mal ins mittlerweile total vermüllte Zimmer des Kumpels…
Dabei genügt oft eine, vielleicht auch wiederholte ermutigende Aufforderung des Begleiters, gemeinsam oder unter Aufsicht aufzuräumen und/oder zu putzen. So rief kürzlich ein Bewohner seine Mutter zu Hilfe: „Du musst gar nichts tun, nur dabei sein! Dann geht’s besser und schneller.“
Und wo gar nichts geht: 14-täglich eine Putzfrau kommen lassen – wie im normalen Leben auch.
Offenes Denken macht kreative Lösungen möglich – wie z.B. in dem Wohnheim, wo der notorische Streitpunkt saubere Nasszelle allgemeinem Wohlgefallen gewichen ist: Einer macht’s Bad, die andern geben je 1 €. So schafft man, ganz nebenbei, niederschwellige Zuverdienstmöglichkeiten!
Und den leidigen Streit um die gerechte Aufteilung der Telefongebühren macht die Einrichtung einer Telefon-„Gemeinschaft“ mit persönlichen Codes überflüssig.