"Komm, geh weg!"

Modell und subjektives Erleben psychischer Erkrankungen
Symposium im Klinikum Wahrendorff
Sehnde, 17.11.1999

Susanne Heim
„Komm, geh weg!“
Die Angehörigen im Bann des Double-bind

Wenn ich hier das Erleben der Angehörigen beleuchte, so soll nicht unerwähnt bleiben, dass sich mein Erfahrungshorizont nicht auf diesen einen Blickwinkel beschränkt. Ich habe die Psychiatrie auch in anderen Positionen kennen gelernt: Zunächst als Hilfsschwester auf einer psychiatrisch-psychotherapeutischen Privatstation, später – nicht psychotisch, aber suizidal – als Patientin u.a. auf der „Geschlossenen“ einer Landesklinik.

Eingedenk der dort gesammelten Erfahrungen wünschte ich, alle psychiatrisch Tätigen, welcher Profession auch immer, könnten wenigstens einmal 14 Tage lang inkognito als Patient unter Patienten den Alltag auf Station miterleben. Ich wette:

Ihr professionelles Weltbild würde sich radikal verändern! Selbsterfahrung ist ja bekanntlich der beste Lehrmeister. Sie würden z.B. entdecken,

wie stark doch die Schwachen sind,
wie hellsichtig die Verwirrten,
wie sensibel realitätsbezogen die Weggetretenen,
kurzum: wie gesund die Kranken sind.

Sie würden staunen, wie gut die Patienten ihre Pappenheimer kennen: Ja, auch den Doktor, die Therapeuten, das Stationsteam – weit besser nämlich als die ihre Patienten kennen! Sie würden staunen, wie geschickt sie von Ihren Schützlingen manipuliert, hinters Licht geführt, gegeneinander ausgespielt werden! Wie oft sie arglos wohlmeinend das Spiel ihrer Patienten (mit)spielen – zumal solange sie, ihre Wahrnehmungsstörungen pflegend, sich blindlings identifizieren und solidarisieren mit den scheinbar so hilflosen Opfern

schizophrenogener Eltern,
pathogener Familienstrukturen
und der schikanösen Gesellschaft.

Ich denke da z.B. – voller Bewunderung – an das bemerkenswerte Talent eines jungen Mannes, der äußerst umsichtig sein seelisches Gleichgewicht zu wahren wusste, indem er in der Klinik flugs die familiäre Beziehungskiste reproduzierte – und Vater Stationsarzt gegen Mutter Beschäftigungstherapeutin austrickste. So konnte er sich in der Klinik ganz wie zuhause fühlen und verhalten – und war gegen das Heimweh gefeit.

Horizonterweiterung tut Not

Wie erhellend intensive Begegnungen mit und auf der jeweils anderen Seite sind, hat unlängst auch eine Psychotherapeutin erfahren, die in einer Kölner Selbsthilfegruppe zu Gast war. Sie wollte in der Klinik eine Angehörigengruppe anbieten und erfahren, was wir so miteinander treiben. Man darf also davon ausgehen, dass sie den Angehörigen schon wohl gesonnen zugeneigt war. Nach dem ersten Abend bedankte sie sich tief beeindruckt. Es sei eine äußerst wichtige Erfahrung gewesen: „Bis jetzt habe ich immer nur gesehen, was die Angehörigen alles mit den Patienten machen. Dass auch die Patienten etwas mit ihren Angehörigen machen – das habe ich gar nicht so wahrgenommen.“

Nun ja, betriebsblind sind wir alle – jeder an seinem Platz. Dagegen hilft eine Horizonterweiterung, wie sie die Psychose-Seminare und Psychose-Foren ermöglichen, die sich mittlerweile an vielen Orten etabliert haben. Sie laden ein zum gegenseitigen Kennen- und besser Verstehen-Lernen, zur Begegnung auf gleicher Augenhöhe, zum Erfahrungsaustausch zwischen allen Beteiligten und Betroffenen: Psychose-Erfahrenen, Angehörigen, ehrenamtlichen und professionellen Helfern. Da kann man nicht nur etwas über die jeweils anderen erfahren, über deren Erleben, deren Bedürfnisse in guten und in schlechten Zeiten. Man kann auch sich selbst und die Wirkung des eigenen Verhaltens auf die andern besser kennen lernen.

Ich plädiere dafür, dass die regelmäßige Teilnahme an einer solchen Übung – wenigstens ein Semester lang – für alle psychiatrisch Tätigen verpflichtend wird!

Angehörige aber brauchen auch einen Raum für sich, wo sie sich mit Menschen austauschen können, die das gleiche Schicksal, den gleichen Schmerz, die gleiche Trauer zu bewältigen haben. Wo sie verstanden werden, ohne viel erklären zu müssen. Wo sie – im Erfahrungsaustausch – sich ihrer selbst bewusst werden, neue Sicht- und Verhaltensweisen kennen lernen können. Wo sie Kraft schöpfen und Mut entwickeln können, die auch auszuprobieren. Wo sie erfahren: Es gibt ein Leben auch nach der Psychose – notfalls sogar mit Psychose.

Durch die Erkrankung eines Familienmitglieds geraten alle aus dem Lot, in seelische Not, auch die erwachsenen Bezugspersonen, ganz zu schweigen von den Kindern. Alle in der Familie werden zutiefst verunsichert und brauchen Unterstützung, um allmählich wieder Boden unter die Füße zu bekommen. Auch die Angehörigen müssen sich emotionale Stabilität erst (wieder) erarbeiten. Dabei ist es wenig hilfreich, wenn sie immer wieder – offen oder unterschwellig – als Krankmacher verdächtigt werden, sei es als pathogenes "System" mit "gestörter Kommunikation" oder eben als „schizophrenogene“ Mütter und Väter.

Nun sagen Sie nicht, das seien längst abgelegte „Alte Hüte“ : „Ich studiere im 7. Semester Sozialarbeit“, schrieb uns kürzlich ein junger Mann, der seine Diplomarbeit der „Arbeit mit Angehörigen“ widmen wollte. Zitat: „Ausgehend von der Vermutung, dass an der psychischen Erkrankung... die Familie eine gewisse Mitschuld trägt, muss sie auch in die Behandlung einbezogen werden, um mögliche Störungen im Familiengefüge beseitigen oder lindern zu können, die neben anderen Faktoren zur psychischen Erkrankung geführt haben.“ Freilich, wenn er sich die gängigen und ganz „normalen“ Familiengefüge landauf und landab einmal genauer anschaute, dann würde er sich wahrscheinlich wundern, dass nicht noch sehr viel mehr Kinder später psychisch krank werden. Es wird wohl doch so sein, wie es eine Mutter in der Angehörigengruppe einmal auf den Punkt brachte: „Alle Eltern machen Fehler, nur: Unsere Kinder waren leider nicht so fehlerfreundlich wie die andern.“

Ich halte es zwar für eine Abart von Größenwahn, Machbarkeitswahn mit umgekehrtem Vorzeichen, aber: Nehmen wir mal an, es stimmt. Wir – Eltern, Partner, Kinder – haben unsere Angehörigen tatsächlich krank gemacht.

Ja, darf man uns dann die Patienten einfach wieder ausliefern – kaum, dass sie durch professionelles Geschick wieder halbwegs stabilisiert sind? Können die psychiatrisch Tätigen das denn verantworten?! Da lob ich mir doch den eifrigen Studenten, der sich nicht mit der bedenklichen Diagnose zufrieden gibt – sondern fachlichen Beistand auch für uns Angehörige für nötig hält!

In der Familienpflege – wenn also eine Familie gegen Bezahlung einen Patienten bei sich aufnimmt – ist professionelle Begleitung ganz selbstverständlich. Ausgerechnet die Herkunftsfamilie aber, die weder aus freier Entscheidung, noch gegen Entgelt zur Pflegefamilie wird, die zudem mit dem Patienten emotional ver­bunden, ja verhakelt, also mit betroffen ist – ausgerechnet die bleibt über­wiegend sich selbst überlassen.

Den Rücken stärken

Angehörige, die mit den Erkrankten zusammen leben, brauchen Rückenstärkung und Orientierungshilfen – auch wenn sie Teile der Verantwortung an professionelle Dienste oder Einrichtungen abgegeben haben. Wie soll denn der Balanceakt zwischen Anspruch auf Versorgung und Selbstbestimmung gelingen, wenn wir alleingelassen werden mit dem Auftrag, die Patienten loszulassen und gleichzeitig zuverlässig aufzufangen.

Auf der heiklen Gratwanderung zwischen notwendiger Hilfe und behindernder Fürsorge geraten die Angehörigen tagtäglich in Konflikt (mit sich selber ebenso wie mit den andern), wenn es um die Verantwortlichkeiten geht: Was kann, was darf, was muss dem (in der Regel ja volljährigen) Erkrankten überlassen bleiben? Wo, ab wann mache ich mich der unterlassenen Hilfeleistung schuldig? Was darf ich ihm zumuten? Was kann ich ihm zutrauen? Fragen, die sich auch die Profis immer wieder stellen dürften – weshalb sie doch wissen müssten, dass mit jedweder Entscheidung das Risiko des Irrtums verbunden ist, des Zuviel oder Zuwenig.

Angehörige kommen zusätzlich in Konflikt mit ihren eigenen Bedürfnissen, ihrer eigenen Lebensplanung:

Wie viel Freiraum, wie viel Eigenleben darf ich mir selber (noch) zugestehen, in Anspruch nehmen? Darf ich für mein eigenes Wohlbefinden sorgen? Darf es mir überhaupt gut gehen, wenn es dem erkrankten Familienmitglied so schlecht geht? Darf ich mich amüsieren, womöglich lachen und fröhlich sein – angesichts seines Leidens?

Wozu auch immer wir uns durchringen – fast immer ernten wir Tadel, von fast allen Seiten: Weil Angehörige sich bekanntlich überall einmischen, alles besser zu wissen glauben, überfürsorglich glucken und klammern oder gar selbstherrlich handeln. Und weil sie – meistens zur gleichen Zeit, nach dem Urteil anderer Zeugen – sich verantwortungslos verhalten, sich zu wenig kümmern, die Kranken womöglich verkommen lassen und sie am Ende skrupellos in die Klinik oder ins Heim abschieben...

Bevor die Betroffenen jedoch den Weg zum Arzt oder gar in die Klinik finden, ja, bis eine psychische Erkrankung überhaupt erkannt und diagnostiziert wird, sind oft Jahre ins Land gegangen. Vorboten und erste Anzeichen werden – von den Ange­hörigen, aber auch von professionellen Helfern – zumeist gar nicht als Symptome wahrgenommen. Sie werden als persönliche Eigenheiten verkannt, als harmlose Schrullen, pubertäre Protesthaltung, vorübergehende Befindlichkeits- oder Ent­wick­lungsstörung. Wenn beunruhigte Angehörige in dieser Phase fachlichen Rat suchen, werden sie nicht selten als zwanghaft pingelig, überstreng, überängstlich, überbesorgt oder gar hysterisch abqualifiziert.

Ratlos in zunehmende Verstrickung

Ernstgenommen werden die Symptome oft erst, wenn Handlungen und Verhaltensweisen so auffällig geworden sind, dass sie keiner "normalen" Erklärung und keiner noch so spitzfindigen Deutung mehr zugänglich scheinen. Dann aber sind oft auch die Erkrankten schon so verunsichert, dass sie sich allen Hilfs- und Behandlungsangeboten vehement widersetzen. Gleichzeitig signalisieren sie aber immer wieder Hilfsbedürftigkeit, provozieren familiäre Fürsorge-Impulse, um sich prompt gegen jede „Einmischung“ und „Bevormundung“ zu verwahren – und ihrerseits die ganze Familie unter Kuratel zu stellen.

Fast immer kommt es zu einer unheilvollen Verstrickung, indem sich alle Aufmerksamkeit auf das Befinden und Verhalten des Betroffenen konzentriert.

Fühlen, Denken und Handeln richten sich nur noch auf das eine Ziel: die Kontrolle der Krankheit und ihrer Auswirkungen. Die Angehörigen sehen sich in der Pflicht: durch ihr Eheversprechen, durch das Gefühl der Verantwortung gegenüber dem Lebenspartner oder als Eltern – selbst im hohen Alter noch und ohne Rücksicht auf eigene Gebrechen und Bedürfnisse. Hilflosigkeit und Ohnmacht werden zum bestimmenden Lebensgefühl.

Auch ich habe nächtelang verstört wach gelegen, während mein Sohn in seinem Zimmer rumorte, seltsame Rituale vollführte, immer wieder laut brüllte. Mitten in der Nacht. Ich hörte ihm stundenlang atemlos zu und wagte nichts zu sagen, nichts einzuwenden, schon gar nicht zu widersprechen: Weil jede noch so harmlose Bemerkung neue Gedanken-Kaskaden auslösen konnte, und er sich immer heftiger in Rage redete. Er fühlte sich verfolgt, war aber nicht bereit, sich irgend jemandem anzuvertrauen – außer mir. Und ich bin innerlich nur noch auf Zehenspitzen gegangen, bin verstummt und fast erstickt vor lauter Vorsicht. Die Angst vor meinem Sohn war genauso so groß wie die Angst um ihm.

Vor lauter verständnisvollem Helfenwollen habe auch ich mich schließlich total verrückt verhalten – und damit absolut nichts zur Klärung der Verhältnisse bei­getragen. Die Verwirrung der Gefühle wurde eher noch bedrohlicher. Einerseits wollte mein Sohn für immer und ewig bei mir bleiben, mich regelrecht besitzen und über mich verfügen. Wollte uneingeschränkt selbstbestimmt von mir gehalten werden. Andererseits ging er auf mich los, drohte mich umzubringen.

Und ich? Ich habe seine Not verstanden – habe abgewiegelt, stillgehalten, habe ihn nicht angeherrscht, nicht zurückgeschlagen oder die Türe zugeknallt und das Haus verlassen. Nein, ich bin in seiner Nähe geblieben, um ihn nicht allein zu lassen mit seinen Schuldgefühlen, die ja unweigerlich folgen mussten...

Ich kenne zahllose Angehörige, die sich ähnlich radikal zurücknehmen, versuchen, sich „therapeutisch“ zu verhalten. Auf diese Weise aber verwischen die Grenzen vollends und alle Beteiligten geraten in eine immer bedrängender werdende gegenseitige Abhängigkeit.

„Wir leben wie in einem Glashaus. Jedes Wort kann falsch sein,“ schrieben kürzlich verzweifelte Eltern. „Unsere Tochter wird dann richtig aggressiv und droht uns. Ihre Vorwürfe und Beschuldigungen sind manchmal nicht auszuhalten. Unsere Kraft ist aufgebraucht. Wie können wir mit unserer Tochter leben, ohne selbst auszubrennen?“

Und eine Mutter berichtet: „Es ist immer wieder der gleiche Teufelskreis:

Einige Wochen lang ist mein Sohn sehr aggressiv, wirft die Türen, dass der Putz herunterfällt, beschimpft mich fürchterlich. Dann kippt sein Verhalten plötzlich um, er spricht kein Wort mehr, verschanzt sich in sein Zimmer, isst kaum noch. Und ich vergehe vor Angst: Ich sitze da wie die Maus in der Falle und warte darauf, dass sie zuschnappt..."

Im Clinch aus Schuld- und Pflichtgefühl

Während es zu Hause immer enger wird, gehen außerfamiliäre Kontakte mehr und mehr verloren, bis hin zur völligen Isolation: aus Scham, aus Angst vor Schuldzuweisungen, vor Stigmatisierung. Zudem versuchen Angehörige in der Regel mit allen Mitteln, die Erkrankten zu schützen und zu stützen. Sie bügeln die Folgen von Fehlverhalten aus, stehen immer wieder für Schulden ein und nehmen notfalls große Einschränkungen der eigenen Lebensqualität in Kauf – immer in dem Bemühen, zu retten, was noch irgendwie zu retten ist. Entsprechend sorgenvoll der Blick in die ungewisse Zukunft und die bange Frage: Was soll mal werden, wenn wir nicht mehr sind, nicht mehr einspringen und beispringen können?!

„Zu außergewöhnlichem Dauerstress“, der häufig krank mache, führe das Leben mit psychisch Kranken – bestätigten denn auch erste Erkenntnisse aus einer „Angehörigenstudie“ des Giessener Zentrums für Psychiatrie, die Anfang 1999 veröffentlicht wurden: 65% der befragten Angehörigen seien „nach standardi­sier­ten Maßstäben behandlungsbedürftig“. Ihre seelische Belastung sei doppelt so hoch wie die der Normalbevölkerung.

Je befremdlicher und störender das Verhalten des Betroffenen wird, desto angespannter die Stimmungslage der gesamten Familie. Mitgefangen, mitgehangen erleben die Angehörigen die Wesensveränderung, die zunehmende Entfremdung in der Beziehung als ebenso schmerzhaft wie bedrohlich. Sie setzen – oft erfolg­los, aber unermüdlich – alles daran, eine Eskalation zu vermeiden, den Erkrankten zu schonen (oder zu aktivieren), ihn – vor allem – zur Einwilligung in eine Behandlung zu bewegen.

Nicht selten vergehen weitere konfliktreiche Jahre, bis dies gelingt. Nicht selten muss das krankhafte Verhalten oder die familiäre Lage sich erst so dramatisch zuspitzen, dass eine Zwangseinweisung nötig und möglich wird. Die aber ist für die Angehörigen in der Regel nicht weniger traumatisch als für die Patienten. Beide sehen sich einer turbulenten Aufnahmestation ausgesetzt und ohne Vorwarnung mit beängstigenden Auswirkungen der Medikation konfrontiert. Folglich hören und machen sich die Angehörigen Vorwürfe, dass sie den Kranken einem solchen Alptraum ausgeliefert haben. Andrerseits klammern sie sich an die Hoffnung, dass nun endlich alles besser wird.

Gleichzeitig fühlen sie sich schuldig, glauben versagt zu haben – und sind ent­sprechend empfänglich für dazu passende Unterstellungen insbesondere von professionellen Helfern – auch wenn kränkende Bemerkungen, unbedacht geäußert, "nicht so gemeint" waren.

Verständnisvolles Mitgefühl, ermutigenden Zuspruch, hilfreiche Information oder gar ihre selbstverständliche Einbeziehung in die Behandlung von Anfang an – das erleben Angehörigen immer noch viel zu selten.

Obwohl – ich mag das schon gar nicht mehr hervorkramen und zitieren – die Ex­pertenkommission der Bundesregierung schon 1988 ohne Wenn und Aber festgestellt hat: „Die Vernachlässigung familienorientierter Arbeit muss als wesentliche Ursache für viele gescheiterte Therapie- und Rehabilitationsmaßnahmen gesehen werden... Fachliche Hilfe ohne die Einbeziehung der Familie geht in der Regel an der Sache vorbei.“

Widersprüchliche Ansprüche

Irgendwie bleiben Angehörige den Profis eben suspekt – und werden als störend empfunden. Dabei kommen sie ja nicht nur mit Fragen, sondern auch mit wertvollen Hinweisen, die den Umgang mit dem Patienten ebenso erleichtern können wie seine Behandlung. Schließlich haben sie eine gemeinsame Vor-Geschichte, die zumeist lange vor der Erkrankung begonnen hat.

Darüber hinaus sind die Angehörigen größtenteils – vor allem für chronisch psychisch Kranke – die einzigen verlässlichen, nicht ständig wechselnden Bezugs­personen im außerstationären Alltag. Sie sollen sich zwar aus allem heraushalten, werden aber immer wieder gern, auch ungefragt, als Hilfsgemeinschaft in die Pflicht genommen: von den Erkrankten ebenso wie von Behandlern und professionellen Begleitern. Deshalb ist es unverantwortlich und als Kunstfehler zu betrachten, wenn sie mit der Schweigepflicht abgewimmelt, nicht an­gehört, mit ihren Fragen alleingelassen werden. Erst recht, solange ihnen krankmachende Interaktion angelastet wird!

Wenn ich von professionellen Helfern höre, wie schwierig und anstrengend doch der Umgang mit psychisch kranken Menschen sei – dann kann ich nur sagen:

Na und? Glauben Sie, bei uns zuhause wär' das leichter? Wir Angehörigen aber haben uns diese Aufgabe nicht ausgesucht und wir sind nicht darauf vorbereitet worden. Ja, die meisten Angehörigen finanzieren ihren Einsatz auch noch selber – Rufbereitschaft rund um die Uhr inklusive. Die Psychiatrie hätte allen Grund, dieses Potential zu achten und pfleglich zu behandeln, die Angehörigen als Teil des Teams wertzuschätzen, das sich um das Wohl der Patienten bemüht, und sie zu Verbündeten zu machen!

Wenn die Angehörigen nämlich einmal in Generalstreik treten würden – die ambulante Versorgung würde schlichtweg zusammenbrechen. Leider sind sie überwiegend so gefangen in ihrer Sorge und in Schach gehalten von den widersprüchlichen Botschaften aus allen Ecken, dass sie sich ihrer Macht gar nicht bewusst werden.

Sie brauchen Entlastung und Entscheidungshilfen. Dazu gehört allerdings ein bisschen mehr als die kurzangebundene Aufforderung: „Lassen Sie sich scheiden. Manisch-Depressive sind halt nicht beziehungsfähig!“ Oder die Auskunft, man solle sich „normal“ verhalten. Was, bitte, ist normales Verhalten gegenüber einem Menschen, der seit zwei Jahren im verdunkelten Zimmer das Bett hütet, allenfalls zum Essen aufsteht, sich aber als kerngesund deklariert, folglich jeden Arztkontakt ablehnt – mit dem Hinweis: „Wenn hier jemand krank ist, dann seid Ihr das!“

Was ist hilfreich – und für wen?

Wer setzt die Norm? Ist die Norm immer hilfreich? Welche Bedürfnisse haben Vorrang? Der Familienfrieden? Die Bedürfnisse des Erkrankten? Die Bedürfnisse der (ver-)sorgenden Angehörigen? Was hilft, was schadet wem?

Wenn etwa ein Arzt Angehörigen dazu verhilft – ich sage: sie verführt – dem hartnäckigen Nicht-Patienten heimlich Medikamente unterzujubeln?

Oder sie mit dieser Empfehlung nach Hause schickt: „Als Arzt kann ich Ihnen nur dringend raten: Wenn Sie ihrem Sohn helfen wollen, dann setzen Sie ihn endlich vor die Tür – mit allen Konsequenzen. Als Vater würde ich ihm eine Wohnung besorgen und die Miete bezahlen.“

Angehörige brauchen Begleitung – wie professionelle Helfer ihre Supervision. Wer sie ihnen vorenthält, mag ja vieles im Sinn haben, nur ganz gewiss eines nicht: das Wohl der Patienten. Schließlich ist längst erforscht und erwiesen: Je besser es den Angehörigen geht, desto besser geht es auch den Patienten. Mut zur Geduld mit mir selber und den anderen, Gelassenheit, Zuversicht ist gefragt.

Nach einem so einschneidenden, alles in Frage stellenden Ereignis wie einer psychischen Erkrankung muss all das aber erst wieder geweckt und entwickelt werden. Dabei hilft es, wahrzunehmen, wie viel positive Sensibilität, Kreativität und Kraft hinter dem steckt, was wir psychische krank nennen; und: unter­scheiden zu lernen, was wessen Problem ist.

Mit mir ging’s jedenfalls bergauf – ich wurde allmählich wieder handlungs­fähig – als ich begriffen hatte, dass es meinem Sohn nichts nützt, wenn ich mir schade oder schaden lasse. Dass er nicht gesunden kann, wenn ich mich seinetwegen kränke. Dass wir uns gegenseitig heillos verheddern, wenn ich leide, weil er leidet – und er leidet, weil ich leide, weil er... Am Ende weiß da keiner mehr, was Mein ist und was Dein – und wer womit angefangen hat.

Leider kommen professionelle Helfer meistens erst an diesem Ende – jedenfalls nie am Anfang – ins Spiel. Sie sollten sich deshalb immer daran erinnern, dass sie nur sehen und erkennen können, was ist. Wie, warum, wodurch es so geworden ist, wie es ist, das entzieht sich oberflächlicher Betrachtung. Und auch beim Tief­schürfen sollte man sich vor eilfertigen Kurzschlüssen hüten – und im Hinterkopf behalten: Innere Wirklichkeiten und äußere Realität sind nicht unbedingt deckungs­gleich.

Bitte, denken Sie immer daran – und ganz besonders, wenn Sie wieder einmal meinen: „Na, bei der Mutter wär’ ich auch...“ Fragen Sie diese Mutter lieber mal, wie es ihr mit alledem geht!