Der kennt das Wasser am besten, der es durchwatet hat...
Psychose- und Psychiatrie-Erfahrene als ebenbürtige Gesprächspartner
In der psychiatrischen Szene ist es schick geworden, vom Miteinander-Sprechen zu reden. „Trialog“ heißt das Schlagwort - spätestens seit dem 14. Weltkongress für Soziale Psychiatrie, der im Juni 1994 in Hamburg zum historischen Ereignis wurde: Zum ersten Mal in der Geschichte der Psychiatrie haben dort professionierte Fachleute, Psychose-Erfahrene und Angehörige in gemeinsamer Verantwortung, in gleichberechtigter Partnerschaft eine solche internationale Fachtagung vorbereitet und durchgeführt.
Die Lebendigkeit, die Aufbruchstimmung, die diesen Kongress prägte, hat viele Teilnehmer beflügelt, zu Hause, auch im beruflichen Alltag, mutiger zu werden und Wege zu suchen zu offeneren Umgangsformen. Im Windschatten der Euphorie machte eine damals schon bewährte trialogische „Übung“ bundesweit Schule, die sich seit 1989 im Universitätskrankenhaus Hamburg-Eppendorf etabliert hatte. Dort sollten im Rahmen einer sozial-psychiatrischen Lehrveranstaltung des Psychologen Thomas Bock Vertreter verschiedener Therapieschulen zu ihrem Verständnis von und ihrem Umgang mit Psychosen befragt werden. Eher zufällig war damals auch Dorothea Buck zu Gast, auf der Suche nach Interessenten für einen „Arbeitskreis für mehr Mitbestimmung Betroffener in der Psychiatrie“ (1). Sie meldete sich zu Wort und bestand darauf, als ehemals Schizophrene, die nach fünf Schüben gesundet war, ebenfalls befragt zu werden. Denn, so sagen die Dänen: „Der kennt das Wasser am besten, der es (selber) durchwatet hat.“
So verwandelte sich das akademische Reden über Psychotiker zum Gespräch mit psychose-erfahrenen Menschen. Und schon im folgenden Semester wurde der Dialog zum „Trialog“ erweitert, um das Bild durch den Blickwinkel der Angehörigen abzurunden.
„Stimmenreich“ und „Im Strom der Ideen“ - zwei Bücher (2/3) aus dem Psychiatrie-Verlag - dokumentieren die spannende Geschichte dieses Hamburger Psychose-Seminars, das zum Vorbild wurde für eine bunte Vielfalt von mittlerweile über hundert ähnlichen Verständigungsbemühungen quer durch die Bundesrepublik (und darüber hinaus). Sie sind bis jetzt überwiegend an außerklinischen Diensten und Institutionen angesiedelt, leider noch zu selten an psychiatrischen Kliniken, obwohl sie gerade hier - als eine Form von institutioneller Supervision - wichtige Impulse geben könnten für die Entwicklung einer menschlicheren, einer verständigeren Psychiatrie. „Dabei kann man ruhig mal darauf verweisen, dass solche Foren für die Aus- und Weiterbildung eine hohe Bedeutung haben können“, heißt es im Vorwort zu dem Band „Im Strom der Ideen“. „Denn wo sonst erlebt man als werdende Fachkraft so hautnah die notwendige Verunsicherung des unbedingten Helfen-Wollens und so lebendig die ,Verschränkung der Perspektiven“'. (3) Weshalb eine chinesische Weisheit empfiehlt: „Willst du etwas wissen, so frage einen Erfahrenen und keinen Gelehrten.“
Ganz in diesem Sinne wurde denn auch das erste Kölner Psychose-Seminar 1995 vom Fachbereich Sozialpädagogik der Fachhochschule Köln angeboten. Was allerdings bei manchen Psychose-Erfahrenen Misstrauen weckte: ob sie nicht doch wieder nur als Studienobjekte herhalten sollten.
Im Schutze der Öffentlichkeit
Im Herbst 1996 hat dann die Volkshochschule die Veranstaltung übernommen und die Tür noch weiter geöffnet: Wir sind zur trialogischen Moderation übergegangen, geben die Termine unserer Zusammenkünfte nicht nur im Programmheft der Volkshochschule bekannt, sondern laden auch über die Presse ein, und nennen unser Angebot mit Bedacht „Psychose-Forum“. Damit wollen wir deutlich machen, dass es sich nicht um eine schulisch-wissenschaftliche Lehrveranstaltung handelt, sondern um ein Forum für Begegnung, für gegenseitiges Kennenlernen - offen für alle interessierten Menschen, auch wenn sie selber noch keine Berührung mit Psychiatrie gehabt haben. Gar nicht bedacht hatten wir dabei einen bedeutsamen Nebeneffekt: Die explizite Öffnung auch für „nur“ interessierte Mitbürger macht gerade jenen die Teilnahme möglich, die sich (noch) nicht zu ihrer eigenen Betroffenheit bekennen können. Selbstverständlich genießen alle Anwesenden den Schutz der Anonymität, solange sie diese nicht selbst aufheben.
Wir treffen uns - im Verlaufe des Semesters - in der Regel vierzehntäglich als konsequent offene Gruppe. Strikt eingehalten wird, unabhängig von der Intensität des Gesprächs, der zeitliche Rahmen: zwei Stunden, einschließlich einer klaren Pause von ca. 20 Minuten in der Mitte.
Die Teilnehmerzahl scheint sich allmählich zwischen 40 und 50 einzupendeln. Weit über die Hälfte - rund zwei Drittel - bilden den Stamm der Unentwegten, die so gut wie immer kommen. Dazu gehörte zeitweise auch ein Baby. Es gibt jedoch weder eine Pflicht zu regelmäßiger Teilnahme, noch zu aktiver Beteiligung. Auch sporadisches Erscheinen oder nur „mal schnuppern“ ist erlaubt. Trotzdem - oder gerade wegen dieser bedingungslosen Freiwilligkeit - entsteht in dieser Großgruppe mit teilweise wechselnder Besetzung eine vertrauliche, vertrauensvolle Atmosphäre, die beeindruckend intensive Gespräche möglich werden lässt. So kommt es immer wieder vor, dass jemand nach sehr anrührend-persönlichen Äußerungen innehält und gesteht: „Darüber habe ich bis heute noch mit keinem Menschen gesprochen.“ Und kürzlich staunte eine Teilnehmerin, ihres Zeichens Psychotherapeutin: „Meine Güte, das ist hier so dicht, da kann man gleich einen ganzen Packen Lehrbücher wegwerfen.“
„Offenheit und Akzeptanz“, „menschliche Vielfalt und Toleranz“, „Anteilnahme und Distanz“, „Zwanglose Leichtigkeit, Humor im richtigen Moment“ - so lauteten am Ende des ersten Semesters die häufigsten Antworten auf die Frage, was am Psychose-Forum besonders gut gefallen hat. Womit schon die wichtigste Aufgabe der Moderation beschrieben wäre: nämlich für diese Atmosphäre zu sorgen.
Respekt und wohlwollendes Interesse
Es braucht dazu nur bescheidene Rahmenbedingungen: wenigstens einen unvoreingenommen neugierigen Moderator ohne hierarchische Ambitionen, wenn auch gelegentlich mit Vorreiterfunktion; wenigstens einen Protokollführer und einen Raum, in dem man im Kreis sitzen kann. In Hamburg steht in der Mitte ein Tisch als Zentrum zum Festhalten, für Papier und Getränke (4). In Köln hat sich das eher als hinderlich erwiesen. Wir sind ohne Tisch lockerer geworden und uns nähergekommen, mit einem inneren Kreis, um den sich nach Bedarf weitere Dreiviertel- und Halbkreise ziehen.
Als äußerst hilfreich hat sich unsere Papierrolle entpuppt. Ursprünglich als Wandzeitung für die Pause gedacht und nur zögerlich genutzt, ist sie jetzt als Endlosrolle in den Kreis integriert und jederzeit zugänglich für spontane Äußerungen - was prompt zur „Entlastung“ der Gespräche geführt hat. Überbordende Temperamente können hier ungebremst ihre Einfälle loswerden, ohne jemandem ins Wort zu fallen - und dadurch immer wieder ärgerliche Zurückweisung zu erfahren. Oder, anders gesagt: Die Äußerungen aller Teilnehmenden werden wichtig genommen, notiert und bei passender Gelegenheit wieder aufgegriffen.
Bewahren und anderen zugänglich machen wollen wir darüber hinaus, was Teilnehmer des Psychose-Forums zu Hause so sehr weiterbewegt, dass sie es aufschreiben. Dafür haben wir, als Anhang zu den Protokollen, unsere „Psychose-Blatt-Sammlung“ erfunden. Denn das hat sich sehr schnell gezeigt: Das gemeinsame Erinnern und Besprechen von Erlebtem und Erlittenem setzt Prozesse in Gang, die nach zwei Stunden Psychose-Forum noch lange nicht zu Ende sind. Der rollenunabhängig respektvolle Umgang miteinander, das wohlwollende Interesse füreinander definiert sich nicht als Therapie mit dem Ziel der heilenden Veränderung. Und entfaltet doch - vielleicht gerade deshalb - eine ungemein therapeutische Wirkung. Mich hat bei der Auswertung unserer Umfrage zum Abschluss des ersten Semesters die Anmerkung eines Teilnehmers sehr angerührt: Besonders gestört hat mich „Meine Ungeduld, die ich gegenüber einem ziemlich eindringlichen Betroffenen empfand (vielleicht erkannte ich mich auch in ihm wieder) ...“
Anders als viele andere Veranstaltungen ähnlicher Art verzichten wir in Köln in der Regel auf einleitende Referate. Es geht in erster Linie nicht um objektive, sachlich-fachliche Information. Dafür gibt es andere Angebote, für die wir ggf. auch werben. Das Psychose-Forum dient einer anderen Art von Horizonterweiterung: Hier geht es um das jeweils ganz persönliche Erleben von Psychose, die ganz persönlichen Erfahrungen der jeweils Betroffenen und Beteiligten in und mit der Psychiatrie - in all ihren Schattierungen. Darüber haben wir alle bislang viel zu wenig miteinander gesprochen. Immer noch wird ja in der Psychiatrie viel zu wenig gefragt, nachgefragt - und noch weniger zugehört, hingehört. So bleiben unbedachte Kränkungen und schlichte Missverständnisse unaufgeklärt, werden Fehl- und Vorurteile, Misstrauen, Ängste und Abwehr zementiert. Verhärtete Fronten aber blockieren Entwicklung.
Übungsfeld für Partnerschaft
Erst wenn wir uns gegenseitig ernstnehmen, einander zuhören und genauer wahrnehmen, erst dann können wir mehr (Selbst-) Vertrauen und mehr Verständnis füreinander entwickeln und lernen, unbefangener miteinander umzugehen - und auch kontroverse Sichtweisen auszuhalten.
Dafür bieten Psychose-Foren und -Seminare ein überaus fruchtbares Übungsfeld, das alle Beteiligten zwanglos, unabhängig von familiären, edukativen, pädagogischen oder therapeutischen Ansprüchen, nach eigenem Ermessen aktiv oder passiv nutzen können.
Zum Auftakt des Semesters sammeln wir die Themen, die wir miteinander besprechen wollen (s. Anhang). Sie dienen als Richtschnur und Aufhänger, nicht als Pflichtprogramm, das systematisch abgearbeitet werden muss: Vorrang hat, was die Teilnehmer aktuell bewegt, was sie mitbringen und spontan einbringen. Das Bedürfnis, sich mitzuteilen ist, nicht zuletzt bei den Psychose-Erfahrenen, immer noch größer als der durchaus auch geäußerte Wunsch nach Information. Die Angehörigen sind darüber hinaus begierig, möglichst viel zu erfahren, was ihnen Verhaltensweisen und Reaktionen erkrankter Familienmitglieder verständlicher werden lässt.
Anfangs verliefen die Gespräche oft recht sprunghaft. Mittlerweile gelingt es schon besser, uns auf einen Themenkomplex zu konzentrieren. So haben wir uns über drei Sitzungen lang mit unterschiedlichen Facetten von „Grenzen“ auseinandergesetzt - ohne dass deren Erforschung damit abgeschlossen wäre. Auch sind wir mutiger geworden und wagen uns zunehmend an eher schwierige Themen wie Gewalterfahrung, Macht und Ohnmacht. Dabei stellen wir immer wieder fest: Die Konflikte, die uns beschäftigen, sind keineswegs typische Besonderheiten der Psychiatrie. Es handelt sich eigentlich um allgemeine zwischenmenschliche Probleme, die freilich im Bannkreis der Psychiatrie - wie in einem Brennspiegel - besonders heftig und besonders unheilvoll zutage treten. Es geht um Verstehen und Verstandenwerden, um Ehrlichkeit, Verantwortung, Angst und Mut, um Vertrauen und (Selbst-)Sicherheit, Nähe und Distanz. Kurzum, es geht um unsere alltäglichen Gratwanderungen zwischen Abhängigkeit und freier Selbstbestimmung.
Auf der Gratwanderung zwischen zuviel und zuwenig Strukturierung der Gespräche lassen wir gelegentlich auch „kreatives Chaos“ zu, was sich im nachhinein als durchaus fruchtbar zu erweisen pflegt. Anhand der Protokolle stellt sich später nämlich immer wieder heraus, wie nah wir am Thema geblieben sind und wie viele Themen bearbeitet wurden, ohne dass sie „offiziell“ zur Debatte standen.
Wichtig ist vor allem, dass die Symmetrie einigermaßen gewahrt wird: dass die unterschiedlichen Blickwinkel gleichberechtigt zu Wort kommen, unabhängig davon, wie viele „Vertreter“ der jeweils beteiligten Gruppen anwesend sind - wobei übrigens ausgerechnet die sonst als so dominant erlebten Profis immer wieder gezielt aus der Reserve gelockt werden müssen. Ihnen fällt es anscheinend besonders schwer, den Mantel der Fachlichkeit abzustreifen und sich als Person zu offenbaren, verletzlich wie alle anderen (Mit-)Menschen auch.
Da hat es sich schon sehr bewährt, dass wir uns als „Dreierpack“ die Aufgaben der Moderation teilen - und zwar von Sitzung zu Sitzung abwechselnd: Eine übernimmt die Regie, die andern beiden assistieren. Das entlastet die Gesprächsleiterin und gibt allen dreien die Freiheit, auch mit eigenen, persönlichen Beiträgen Impulse zu geben oder, als „Eisbrecher“, durch „vorgelebte“ Offenheit andere Teilnehmer der entsprechenden Gruppe zu ermutigen.
Eva Dorgeloh:
Als Profi ins Psychose-Forum - was bringt das?
(www.psychiatrie.de/hilfenetz/psychoseseminare/profi/)