Das Psychoseseminar (Eva Dorgeloh)

Der sozialpsychiatrische Dienst ergreift Initiative zum Trialog
Vortrag auf dem Kongress öffentlicher Gesundheitsdienst in Marburg am 8.5.2004

Ich möchte Sie heute in das Psychoseseminar in Köln einladen – in eine Veranstaltung, in der Psychoseerfahrene, deren Angehörige, Psychiatrieprofis und an psychiatrischen Fragestellungen interessierte Bürgerinnen und Bürger miteinander ins Gespräch kommen.
Ich möchte Sie teilhaben lassen an meinen ganz persönlichen Erfahrungen – an der Gefühlsdichte, die sich in einer solchen Veranstaltung entwickelt, an einem tiefgründigen Austausch, der auch die letzten Fragen des menschlichen Daseins nicht scheut, an der Offenheit, an dem Respekt füreinander, an dem Ringen um Verstehen und Verständigung, das keine fertigen Erklärungskonzepte toleriert. Wie meine psychoseerfahrene Mitmoderatorin es einmal ausdrückte:“ Man kann diese direkte Art der Verständigung wohl darauf zurückführen, daß das erfahrene Leid, gleich aus welcher Perspektive es wahrgenommen wird, keine Umschweife und Umwege duldet.“

Sie sind also eingeladen zu zwei Stunden intensivem Austausch, die wir jetzt der mangelnden Zeit wegen auf 25 Minuten abkürzen werden. Sie können sich mit in den Kreis setzen und schon mal einen ersten Blick auf die TeilnehmerInnen wagen – keine Angst, Sie brauchen nichts zu tun – Sie brauchen heute mal für keinen die Verantwortung zu übernehmen, außer für sich selbst. Sie können sich mitteilen oder schweigen, sie können nur mal unverbindlich „schnuppern“, Sie können wiederkommen, Sie können anonym bleiben oder Ihre Identität preisgeben – aber wie auch immer – wenn Sie erst mal Feuer gefangen haben, wird sich irgendetwas ändern – das ist Ihr Risiko oder Ihre Chance.

Also machen Sie es sich bequem und schauen Sie sich mal um: Sie sehen diesen etwas heruntergekommenen Raum in der VHS mit diesem gewissen Charme, mit diesem wunderbaren Blick über Köln – es gibt hier zu fortgeschrittener Stunde herrliche Sonnenuntergänge oder auch dicke Wolken – je nachdem.

Sie sehen diesen exaltierten kahlgeschorenen Mann im weißen Anzug, dicke Ringe an den Fingern und ein Weidenkörbchen im Arm eingehängt – der ist bestimmt schwul und total gestört. Sie sehen diese biedere Frau im Faltenrock mit der adretten Dauerwelle – das ist bestimmt so eine eingefahrene Angehörige, die sowieso unbelehrbar ist und immer recht hat. Sie sehen diesen drahtigen Mann mit schon angegrautem Haar und der Sportjacke, der meistens ein bißchen zu spät kommt – könnte vielleicht auch ein Profi sein – wirkt irgendwie so angenehm normal. Sie sehen die unentwegt Alternativen, neugierige junge Leute – vielleicht StudentInnen von der FH – sind ein bißchen schüchtern. Und da hinten die, die sich nicht so in die erste Reihe trauen – das sind doch ganz eindeutig chronisch Schizophrene – denen sieht man das Residualsyndrom doch schon förmlich an. Was die wohl hier wollen? Na ja, jedenfalls stören sie erst mal nicht. Aber die strickende Französin hinter Ihnen, die die ganze Zeit so derartig expressiv Ihre Gefühle nach außen trägt – mit der wollen Sie doch erst mal lieber nichts zu tun haben. Interessierte Bürgerin sei sie – das haben Sie schon mitbekommen – ob das wohl stimmt?
Was immer Sie sich vorstellen wollen – tun Sie´s – Köln ist eine Großstadt und hat viel zu bieten – vielleicht haben Sie ja aber auch die eine oder den anderen aus heimatlichen Gefilden mitgebracht – alles ist o.k. - jedes Klischee, jedes Vorurteil darf bedient werden – Sie brauchen´s ja nicht öffentlich zu machen – und Sie können sicher sein – die anderen machen das genauso wie Sie.

O.k. - Sie bleiben also dabei und machen es sich bequem – vielleicht ist es Ihnen ein wenig flau und Sie fragen sich, was Sie hierhin verschlagen hat – aber Sie sind doch zumindest so höflich, diese Einladung nicht auszuschlagen – und wer weiß, vielleicht wird es ja ganz interessant – Sie denken daran, daß Sie für keinen der 35 Leute hier die Verantwortung tragen – nur für sich selbst.

Die Verantwortung haben ja doch wohl die Moderatorinnen – diese doch leicht progressiv wirkende Psychiaterin vom Kölner Gesundheitsamt, wo Sie doch erst mal schauen müssen, was Sie der so zutrauen können – diese Angehörige, Frau Heim – ist ja doch auch überregional bekannt und bisweilen doch recht überzogen in ihrer kritischen Haltung – irgendwie ja doch auch ein bißchen berufsbetroffen. Und die dritte im Bunde ist bestimmt die Frau mit dem großen Hund – bestimmt linksengagierte 68er Generation – psychoseerfahrene Lehrerin.

Und was steht heute eigentlich auf dem Programm – ach ja es gibt ja dieses Info-Blatt – da steht´s ja drauf: Kulturelle Unterschiede im Umgang mit psychischer Erkrankung – Selbstwert und Krise – Welche Hilfen wünschen sich Betroffene von ihren Angehörigen – Zulassen, loslassen = verlassen? – Zwang und Gewalt in der Psychiatrie – Der mündige Patient und sein Gegenüber – Feste feiern ist besser als feste arbeiten (Semesterausklang).

Was mir persönlich am besten gefällt sind die Themen, wo man so ins Philosophieren kommen kann – wo man sich so assoziativ gelockert tiefgründig im eigenen Menschsein verlieren kann, wo tiefe Erkenntnisse entstehen, dieses alles und alle verbindende – und dann auch die andere Richtung wieder ins Konkrete, wo es knallhart auf die Alltagsebene zurückgeht.

Ich folge also heute mal meiner Vorliebe – und wir tauschen uns aus zum Thema „Kommunikation, Sprache und Wahrnehmungsveränderungen“.

Und jetzt wird´s richtig interessant – erklärt doch der exaltierte weiß Gewandete, daß Wittgenstein zufolge zwischen Worthülse und Wortinhalt unterschieden werden müsse – Manche sähen nun mal die positive Bedeutung in einem Wort – andere nur die negative. Er stelle sich die Frage, ob eine Psychose nicht dann auftreten könnte, wenn jemand zu viel Negatives sehe.

Die biedere Faltenrockträgerin meint, daß Gedanken so einseitig quälend sein könnten, daß die Sprache nicht mehr mitkäme. Auch Genies wie van Gogh hätten gelitten. Manche Dichter wären vielleicht flüchtig paranoid. Tödlich würde es dann, wenn man sich nicht mehr äußern könne.

Der drahtige Angegraute – Oberarzt in der Klinik – meint, daß Sprache in Zusammenhang mit Bildern auch Angst machen könne. Sprache diene als Gefäß für Gedanken. Beim Umgang mit psychisch Kranken habe er den Eindruck gewonnen, in ihrer Sprache drücke sich etwas Urmensch-liches aus, aber extrem und nicht mehr vom Ich steuerbar.

Wann haben Sie so etwas schon mal gehört – was hat das mit Ihnen zu tun? Wie ist bei so vielen verschiedenen Interpretationsmöglichkeiten und Wahrnehmungen überhaupt Verständigung möglich? Einer von den chronisch Schizophrenen meldet sich – er achte in Gesprächen besonders auf den Gesichtsausdruck. Schlechte Erinnerungen an Psychiatrieaufenthalte in der Klinik werden gleich bei mehreren wach – das erlebte Desinteresse – nicht nur diagnostische Fragestellungen, sondern auch der menschliche Kontakt sollte im Vordergrund stehen – dazu bedürfe es ja nicht nur einer kognitiven Verständigung. PsychiaterInnen sollten Partner sein, die auch bereit sind von anderen zu lernen.

Gut – solche Äußerungen kennen Sie – aber lohnt es sich nach all dem jetzt Erlebten nicht darüber ernsthaft nachzudenken – das Risiko einzugehen mit der eigenen Professionalität als Mensch deutlicher sichtbar zu werden, sein Profil vor einer erweiterten Sichtweise zu schärfen?

Ich könnte Sie jetzt noch zu einem anderen Thema einladen – Umgang mit Suizidalität – harter Tobak für so eine Veranstaltung könnte man denken – für so eine offene große Gruppe – aber ich kann Ihnen nur aus eigener Erfahrung berichten – so was geht. Ich habe in meiner ganzen Psychiatriekarriere noch nie mit so vielen Facetten und mit einer solchen Intensität über Selbstmord geredet – und dies mit einer hohen Entlastungsfunktion für alle – aber wenn sich auf die Frage vor der Zwischenpause, wer denn schon unmittelbar Berührungspunkte mit Selbstmord oder Selbstmordabsichten hatte, sich fast ausnahmslos alle Finger heben und die Leute sich umschauen und erkennen, daß sie damit nicht allein sind – das ist schon ein sehr tief empfundener Moment, wo auch mir als Moderatorin der Atem stockt.

Wenn ich Sie jetzt nach dieser Reise mit meiner Begeisterung für das Psychoseseminar angesteckt habe und Sie sich gar zu einer Teilnahme oder der Moderation einer solchen Veranstaltung ent-schließen sollten, möchte ich Ihnen noch folgende Gedanken mit auf den Weg geben:
Moderation hat die Aufgabe, Raum zu geben – einen Raum, in dem auch unbequeme Menschen willkommen sind, wo sich nicht jede und jeder einbringen muß, aber verläßlich mit seinen Anliegen zu Wort kommen kann – einen Raum, in dem alle drei Gruppen mit ihrem spezifischen Blickwinkel gleichermaßen wichtig und wertvoll sind. Diesen Raum zu geben erfordert auch schon mal gezieltes Nachfragen, Bündeln von Inhalten, dem Inhalt einzelner Wortbeiträge eine verständliche Form zu geben oder einzelne TeilnehmerInnen zu begrenzen.Dies gelingt meiner Erfahrung nach nur mit einer respektvollen Grundhaltung – und das ist etwas, was ich nicht zuletzt in der Reflexion mit meinen Mitmoderatorinnen noch mehr gelernt habe – andere in ihrem Anderssein noch mehr zu respektieren als ernst zu nehmende Gesprächspartner-Innen, als ExpertInnen für ihr jeweils eigenes Leben. Und auch das habe ich gelernt: daß auch ich als professioneller Mensch in diesem Rahmen respektiert werde.

Das Psychoseseminar bietet die Gelegenheit das eigene Menschsein in einer Intensität, in einer Gefühlsdichte zu erfassen und zu reflektieren, wie ich dies sonst in keiner professionellen Veranstaltung erlebt habe.

Und warum sollten Sie sich gerade dort auf so etwas einlassen? - Weil Sie gerade auch in Ihrem Berufsfeld in allererster Linie Mensch sind!